„Arafat ist unser Vater“

Der PLO-Chef besuchte am Wochenende das palästinensische Flüchtlingslager Jabaliya im Gaza-Streifen, in dem vor sechseinhalb Jahren der Aufstand gegen die israelische Besatzung ausbrach  ■ Aus Jabaliya Karim El-Gawhary

„Das ist es, was die Israelis Jassir Arafat übergeben haben: eine Katastrophe. Ungepflasterte Straßen und ganze Seen von Abwasser.“ Während Abu Munif diese Hinterlassenschaft beschreibt, versucht er, mit seinem Wagen die Schlaglöcher auf dem staubigen Weg zu umfahren, an dessen Rand eine stinkende Kloake langsam den Hügel herunterrinnt. Wir fahren immerhin auf einer der Hauptstraßen in dem palästinensischen Flüchtlingslager Jabaliya im nördlichen Gaza-Streifen. Das ist der Ort, an dem der PLO-Chef in wenigen Stunden seine schäbige Erbschaft mit eigenen Augen begutachten wird. Seit dem Morgen kündigt ein Lautsprecherwagen seine baldige Ankunft in einer Schule in Jabaliya an.

Jabaliya, das ist für die Palästinenser der Inbegriff der Intifada, des Aufstands gegen die israelische Besatzung. Als ein Lastwagen der israelischen Besatzungsarmee Anfang Dezember 1987 im Lager in ein palästinensisches Auto fuhr und vier Palästinenser dabei umkamen, war dies für die 100.000 Menschen, die in einem der dichtbesiedeltsten Slums der Welt mit nur rudimentärer Infrastruktur leben müssen, nach jahrzehntelanger Erniedrigung Anlaß genug, den Funken zur Explosion zu bringen. Der Aufstand brach aus und dehnte sich binnen Tagen auf die anderen Flüchtlingslager und Städte im Gaza-Streifen und der Westbank aus.

Die israelische Armee ist inzwischen abgezogen. Alles wirkt friedlich. Nur noch das ehemalige israelische Militärcamp im Zentrum von Jabaliya erinnert an die früher allgegenwärtige Präsenz der Soldaten. Inzwischen ist hier die palästinensische Polizei eingezogen. Ein überdimensionaler israelischer Beobachtungsturm, ein Symbol der Unterdrückung, steht noch. Die Besatzer wollten ihn nicht abbauen, um den Lagerbewohnern nicht zu früh einen Hinweis auf ihre Abzugspläne zu geben. „Wir benutzen ihn nie, er steht einfach nur noch dort“, gibt einer der palästinensischen Polizisten am Tor zur Kaserne bereitwillig Auskunft.

Der Polizist war, wie die gesamte Einheit hier, früher als Mitglied der Palästinensischen Befreiungsarmee im Sudan stationiert. Das Leben in Gaza sei wesentlich angenehmer als im Sudan, und die Leute seien sehr freundlich zu ihm und seinen Kollegen, erzählt er. Vielleicht könne man den Turm für das neue palästinensische Fernsehen benutzen oder ihn abbauen und an der Küste wieder aufstellen, um das Meer zu überwachen. Jeder der Umstehenden macht einen anderen Vorschlag. An der Stelle, an der heute der palästinensische Polizist steht, hatte vor wenigen Monaten noch ein israelischer Soldat in die Zukunft geblickt. „Das unkontrollierbare Jabaliya ist einer der Gründe, warum wir uns eines Tages aus dem Gaza- Streifen zurückziehen werden“, prophezeite er bereits damals.

Maher Joda ist eigentlich Biologielehrer. Im Moment hat er Ferien und serviert in einem der kleinen Restaurants an Jabaliyas Hauptplatz Humus, zu einem Brei verarbeitete Kichererbsen. Er war gestern in der Stadt Gaza, um Abu Ammar, wie die Palästinenser Arafat nennen, das erste Mal in seinem Leben zu sehen. Es sei allerdings zu voll gewesen, und zu viele Sicherheitsleute seien um den kleinen Mann herumgestanden. Da habe er gerade einmal die Kuffiya, Arafats typische schwarz- weiße Kopfbedeckung, von weitem erspäht, beschreibt er enttäuscht seine Erfahrung vom Vortag. Er hätte ihm gerne einmal die Hand geschüttelt. Ob er heute wieder hingeht, wenn der PLO-Chef kommt, weiß er noch nicht. Er wechselt lieber das Thema und erzählt von den alten Tagen der Besatzung und dem Posten, den die Israelis nur wenige Meter vom Restaurant entfernt zur „Befriedung“ des Lagers aufgebaut hatten. Hinter dem Tresen steht eine alte israelische Tränengasgranate. Die hätten die Soldaten einmal direkt ins Restaurant geschossen.

Wenige Stunden vor Arafats Ankunft. Ein palästinensischer Geschäftsmann aus Jabaliya lädt zum Essen. Sein Geld hat er nicht in Gaza gemacht. Er besitzt Ländereien in Ägypten und macht Geschäfte in Saudi-Arabien. Mehrere Dutzend Männer, die Honoratioren von Jabaliya, sitzen am Boden im Hof seines Hauses, große Tabletts mit Reis und Fleisch vor sich. Arafats Ankunft ist auch hier das Hauptgesprächsthema. Fast niemand der hier Anwesenden hat Arafat am Tage zuvor bei seinem ersten Auftritt in der Stadt Gaza gesehen. Es war zu heiß, zu viele Leute, kein Schatten, und vor dem Fernseher konnte man ohnehin alles viel besser verfolgen. Argumente, die seit der Ankunft Arafats immer wieder zu hören sind. „Die Menschen haben früher bei jeder Gelegenheit auf der Straße getanzt, heute geben sie sich keinen Illusionen mehr hin und sind vorsichtiger geworden“, sagt Ramadan Abu Qamr, ein Vertreter von Arafats Organisation Al Fatah, der größten Gruppe innerhalb der PLO.

Tatsächlich war die erste Zusammenkunft zwischen Arafat und seinem Volk in Gaza eher verhalten verlaufen. Das erwartete Verkehrschaos in Gaza war ausgeblieben, es war mäßig voll, und die meisten gingen unmittelbar nach Arafats Rede nach Hause. Viele waren einfach aus Neugierde gekommen, um ihren „Präsidenten“ einmal aus der Nähe zu sehen. Ein Wunsch der in den meisten Fällen schnell befriedigt werden konnte.

Eine Erfahrung, die nun auch Tausende teilen wollen, die sich im Schulhof von Jabaliya drängen. Für die meisten dürfte es ein wohlbekannter Platz sein. Der überwiegende Teil der Anwesenden besteht aus Jugendlichen und Schulkindern, für die altersmäßige Zusammensetzung des Lagers durchaus ein repräsentativer Schnitt. Es waren gerade diese Jugendlichen, die der Besatzungsarmee das Leben in Jabaliya schwergemacht haben. Ein paar ältere Honoratioren machen es sich im Schatten auf einem der wenigen Stühle bequem. Als Arafat schließlich mit seinem Heer von Sicherheitsleuten auftaucht, bricht eine kurze Hysterie aus. Alle wollen ihn zuerst sehen, ihn, den sie bisher nur vom Bildschirm ihrer Fernseher kennen. In seiner Rede spielt Arafat auf den Stolz der Menschen im Lager an. Immer wenn er von „Intifada“, „Jabaliya“ und den „Kindern der Steine“ spricht, kreischt die Menge begeistert auf. „Mit unserem Blut, mit unserer Seele für dich, Arafat“, skandieren sie. Ihr „Präsident“ stimmt mit ein und wandelt das „für dich, Arafat“ in ein „für dich, Palästina“ um. Alles weitere ist schnell gesagt: die Aufforderung an die Opposition zur Zusammenarbeit, der Hinweis auf das palästinensische Jerusalem und die Freilassung der restlichen palästinensischen Gefangenen. „Die größte Herausforderung, die vor uns liegt, ist der Aufbau des palästinensischen Staates mit unseren eigenen Mitteln“, sagt Arafat. Er verweigere die Bedingungen der Weltbank, fügt er hinzu. Die Kritiker des Abkommens, deren Zahl inzwischen zugenommen hat, versucht er zu besänftigen: „Ehrlich gesagt, das Abkommen, das wir unterschrieben haben, mag einigen Leuten nicht gefallen, es ist aber das beste, was wir unter den gegenwärtigen schlechten Bedingungen erreichen konnten.“

Nach einer halben Stunde ist alles vorbei. Arafat verschwindet blitzartig mit seinen Sicherheitsleuten. Der Platz leert sich ebenfalls binnen weniger Minuten. Die Leute gehen wieder zur Tagesordnung über. Übrig bleiben die ausländischen Kamerateams, die langsam ihre Ausrüstung wegpacken.

Einer der aufmerksamen Zuhörer, Muhammad Al-Aswad, ein 55jähriger Besitzer einer Autowerkstatt in Jabaliya, ist zufrieden. Er habe alles Wichtige gesagt. „Die letzten zwei Tage von Arafats Besuch in Gaza haben mich 27 Jahre israelische Besatzung vergessen lassen.“ Auf die Frage, warum die Menschen nach dem Oslo-Abkommen oder nach der Rückkehr der Deportierten mehr gefeiert haben, hat er eine schnelle Antwort parat: „Wir haben lange auf diesen Moment gewartet. Das ist, als ob man ewig nichts zu essen bekommt und immer darauf hofft. Wenn das Essen schließlich kommt, ist man nach dem ersten Bissen gleich satt.“

Einer der anwesenden Polizeioffiziere mit zwei Sternen auf der Schulter zeigt ebenfalls seine Loyalität: „Arafat ist unser Vater“, erklärt er immer noch benommen von Arafats Auftritt kurz und bündig. Er ist jahrelang mit seinem Vater mitgezogen. Zuerst in Jordanien bis zum Schwarzen September und der Vertreibung der PLO aus dem Haschemitenreich im Jahre 1970, dann im Libanon bis zur Vertreibung der PLO durch die israelische Invasion 1982. Die letzten Jahre vor seiner Rückkehr nach Gaza hat er in Libyen verbracht. Eine typische Exilgeschichte eines neuen palästinensischen Polizisten.

Sein alter Freund, der heutige Schuldirektor Abu Munif, bleibt kritisch. „Wir haben in den letzten Tagen genug Parolen aus den Lautsprechern gehört, jetzt wollen die Leute Konkretes sehen“, sagt er. Arafat sei nur als Besucher da, die Leute wollen ihn aber als Präsidenten. Außerdem stören Abu Munif die vielen Sicherheitsmaßnahmen. „Er tritt auf wie Saddam Hussein, Hafiz al-Assad oder Hosni Mubarak oder die Führer der anderen arabischen Regimes“, kritisiert er. „Die Leute wollen aber, daß er zu ihnen gehört. Wir wollen ein Vorbild für die anderen arabischen Regimes sein und nicht diese einfach kopieren.“

Vieles, was in den letzten Wochen geschehen ist, stimmt ihn mißmutig. Die Leute, die sich Arafat in Gaza als seine Mitarbeiter ausgesucht habe, seien oft die größten Opportunisten, während Menschen, die lange Jahre im Gefängnis saßen und wirklich gekämpft haben, heute vor dem Nichts stünden. Das sei die gefährlichste Entwicklung der letzten Monate, meint Abu Munif. Manche der heutigen Funktionäre seien früher seine schlechtesten Schüler gewesen, fügt er, wissend lächelnd, hinzu. Die Opposition hält sich dieser Tage zurück. Sie weiß, daß während des Besuchs Arafats nicht ihre Stunde schlägt, und hütet sich davor, offen gegen dessen Politik zu demonstrieren.

Als Arafat auf dem Weg nach Gaza war, waren zahlreiche Palästinenser gerade auf dem Weg zum wöchentlichen Freitagsgebet. Die Bilal-Moschee in Tel Sultan, nördlich von Rafah, liegt nur wenige Kilometer von dem Punkt entfernt, an dem Arafat kurz nach dem Gebet seinen Fuß auf den Boden Gazas setzen sollte. Der Prediger sprach vom Auszug und der Vertreibung des Propheten Muhammad von Mekka nach Medina und dessen erneuter siegreicher Rückkehr nach Mekka. Er sei stark und überzeugend gewesen, als er später wieder im Triumph in Mekka einzog. Jeder in der Moschee wußte, worauf der Scheich an diesem Freitag hinauswollte.