So listenreich wie Odysseus

■ Pete Sampras, der fast Unschlagbare, und sein großes Vorbild Rod Laver

Vor dem Endspiel hatte Goran Ivanisevic noch geglaubt: „Pete ist nicht unschlagbar.“ Danach mußte er eingestehen: „Ich hatte gar keine Chance.“ 7:6, 7:6, 6:0 – die britische Presse beklagte sich über „tödliche Langeweile“. Fakt ist, noch nie vermochte seit der Zeit Rod Lavers ein Spieler auf allen Belägen derart zu dominieren – was macht Pete Sampras so gut?

Da muß man weit zurückgehen: Mit einem abgelegten Holzschläger und alten Bällen zog es den jungen Pete, Sohn griechischer Einwanderer, stundenlang zur heimischen Kellerwand. Der Welt entdeckt hat der damals Sechsjährige sein Talent auf einem öffentlichen Tennisplatz. Auf dem Court verblüffte er seinen Vater. Noch nie, so dessen Erinnerung, habe er einen Menschen gesehen, der die „Bälle so leicht schlug, als sei es die leichteste Sache der Welt“.

Doch auch Naturtalent braucht Förderung: Für das Coaching findet sich ein Kinderarzt, Dr. Peter Fischer, der zwar selbst kaum einen Tennisball trifft, sich aber dennoch als glückliche Fügung für Sampras' Karriere erweist. Fast zehn Jahre lang zieht Fischer, als Trainer findiger Autodidakt mit einem IQ von fast 200, ein systematisches Aufbauprogramm durch – ein stetes work in progress. Nach dem Motto „nachahmen und (möglichst) überbieten“, dient die australische Tennislegende Rod Laver als Vorbild. Und der war von Kopf bis Fuß auf Angriff eingestellt.

Immer wieder stehen alte 16-mm-Filme des aggressiv aufspielenden Australiers, der „Rakete“ Laver, auf dem Trainingsplan: beim Aufschlag permanentes Risiko gehen – so die Devise. Erst nach dem Ballwurf ruft der Coach seinem Schützung zu, wohin und mit welchem Schnitt er den Ball servieren soll. Und da wie bei Laver erster und zweiter Aufschlag nahezu identisch sind – den Ball immer nach vorn werfen und schlagen! Kein Kick-Aufschlag! – ist diese Waffe für alle Zeiten scharf gemacht. So schlägt Sampras bei den US-Open 1990, die er mit 19 Jahren als jüngster Spieler aller Zeiten gewinnt, 100 Asse.

Angriffstennis und die Ausbildung zum Allround-Spieler nach australischem Muster steht und fällt für den analytisch versierten Mediziner Fischer mit der Maxime, besseres Grundlinientennis als irgendein Serve-und-Volley- Spieler und besseres Serve-und- Volley-Tennis als irgendein Grundlinienspieler beherrschen zu können. Und – wie Laver – auf jedem Belag gleich stark spielen. Unter „Geburtswehen“ stellt Dr. Fischer die beidhändige Rückhand von Sampras auf die einhändige um – nur so ist schnelles und lupenreines Serve-und-Volley-Spiel möglich. Und zur ganzheitlichen Ausbildung besorgt der immer professioneller arbeitende Coach noch einen Trainer für die Beinarbeit und einen Flugballtrainier.

Listenreich wie Odysseus beginnt Dr. Fischer, Sampras Spiel zu tarnen. Das Täuschungsmanöver besteht aus einem jeweils identischen Ausholschwung für Drive, Spin und Slice. Dieses verdeckte Schlagen läßt den Kontrahenten – wenn überhaupt – erst sehr spät erkennen, wohin und mit welchem Schnitt die Filzkugel unterwegs ist. Für den Gegner ist Sampras' Spiel – vom Aufschlag bis zur Rückhand – demnach schwer zu lesen, seine Reaktionszeit erhöht sich und damit beim schnellen Spiel die mögliche Fehlerquote. Und – logisch – dieser Ansatz ist mehr als Technik und Taktik, das ist Strategie at it's best.

Von den Australiern, insbesondere von Laver, konnte Pete Sampras nach eigenen Aussagen, in dieser Hinsicht nie genug bekommen. Doch auch die Inkarnation sportlichen Verhaltens sah Sampras im tadellosen öffentlichen Benehmen der australischen Gentlemen-Allrounder verwirklicht, ein Habitus, den er sich gerne und mit Überzeugung zu eigen machte.

Seit April 93 führt Sampras die Weltrangliste an, und der Vorsprung scheint ungehindert zu wachsen. Schon kommt der Mythos der Unschlagbarkeit des Tennisstars in Umlauf, und seine Biographie liest sich diesbezüglich wie eine einzige Laudatio.

Einmal nennt ihn sein derzeitiger Coach Tim Gullikson „ein echtes Wunderkind, ein großartiger Sportler – pure Kraft, unglaubliche Beinarbeit, Ballgefühl“; ein anderer erinnert sich noch ganz genau an das junge Talent, das schon mit elf Jahren „Volleys an der Service- Linie annehmen und tiefe Volleys mit einer unglaublichen Gelassenheit spielen konnte“. Ein amerikanischer Juniorentrainer mochte in ihm gar „ein Stück Kunst“ sehen: „Als sie das Talent verteilt haben, haben sie es nicht nur über Pete Sampras abgeladen, sie haben ihn nicht nur abgeschmirgelt und mit einer Schicht Farbe überzogen, sie haben über diesen Jungen zwölf verschiedene Lagen von Farben allerbester Qualität gestrichen.“

Ernstlich aufhorchen aber läßt die Prognose seines sonst eher zurückhaltenden Mentors, der am besten das spielerische Potential von Sampras kennt. Dr. Fischer ist überzeugt, daß er als einziger der jungen Spieler an die Seite der Tennislegende Rod Laver treten könnte, der 1962 und 1969 den Grand Slam gewann. „Ich habe immer gesagt, daß er einmal der größte Tennisspieler aller Zeiten wird.“ Pete Sampras hat mit seiner erfolgreichen Titelverteidigung in Wimbledon gegen Goran Ivanisevic (7:6, 7:6, 6:0) diesem Superlativ neue Nahrung gegeben. Die Highlights seines furiosen Spiels auf Gras: harte und flache Aufschläge, variabler Flugball, mal mit Touch, mal als Winkelvolley, und ein früher, meist geblockter Return. Dazu eine geradezu mühelose Aktionsschnelligkeit beim Spurt ans Netz und die Fähigkeit, sich für einen schnellen Augenblick extrem zu konzentrieren. Wilfried Armonies

Der Autor ist Tennislehrer in Berlin