Keine Versicherung für alle

Clintons größtes Vorhaben, die Gesundheitsreform, gerät ins Wanken / Finanzausschuß des US-Senats beschließt eigenen Entwurf  ■ Von Erwin Single

Berlin (taz) – „Zuviel Sozialismus ist tödlich“ belehrte Bill Clinton junge Studenten noch vor seiner Wahl, „aber ein bißchen mehr davon könnte uns Amerikanern nicht schaden“. Doch kaum im Amt, wurde der Präsident Opfer des „strategischen Haushaltsdefizits“ seines Vorvorgängers Ronald Reagan. Eineinhalb Jahre hat sich Clinton Zeit gelassen, um ein mageres welfare programm anzuschieben, von dem niemand weiß, ob es je realisiert werden kann. Jetzt droht auch des Päsidenten wichtigstes Reformprojekt, die Gesundheitsreform, in den parlamentarischen Mühlen zerrieben zu werden. Am Samstag verabschiedete der Finanzausschuß des Senats eine Vorlage, die in wesentlichen Punkten von Clintons Plänen Abschied nimmt.

Der Entwurf, an dem maßgeblich der einflußreiche demokratische Ausschußvorsitzende Daniel Patrick Moynihan mitgestrickt hatte, will eine allgemeine Krankenversicherung erst in naher Zukunft garantieren; mit staatlichen Zuschüssen für Bedürftige, zahlreichen Gesetzesänderungen und mehr Markt im Versicherungswesen soll bis zum Jahr 2002 ein Versicherungsnetz aufgebaut werden, das für 95 Prozent der Bevölkerung wirksam ist. Clintons Plan dagegen sieht eine universelle Krankenversicherung, verbesserte Leistungen für Frauen, Kinder, Behinderte, Geisteskranke und Süchtige sowie Kostendämpfung über mehr Wettbewerb und staatliche Eingriffe vor.

Das Mammutvorhaben, das nun schon seit Monaten in den Kongreßausschüssen hin- und hergeschoben wird und bis zum gestrigen Nationalfeiertag in eine abstimmungsreife Vorlage gebracht werden mußte, ist für Clinton ein gefährlicher Balanceakt zwischen Marktwirtschaft und Staat. Besonders umstritten ist die Finanzierung: Während Clinton die Arbeitgeber für mindestens 80 Prozent der Versicherungsprämien aufkommen lassen will, was vor allem die Kleinbetriebe auf die Barrikaden bringt, propagieren Skeptiker bereits neue kräftige Steuererhöhungen. An Clintons Versprechen jedenfalls, die Reform werde sich selbst finanzieren, glaubt ohnehin niemand mehr, seit das allseits respektierte überparteiliche Congressional Budget Office im Februar Clinton vorwarf, das Sparpotential der Reformen zu überschätzen und die Komplexität des Vorhabens ungenügend zu quantifizieren. Die oppositionellen Republikaner geißeln das Jahrhundertprojekt seit Monaten als 700 Milliarden Dollar teures Vergnügen und wollen jede Reform vor den Zwischenwahlen im November verhindern. Auch die Spitzenverbände der Wirtschaft lehnen trotz Schmeicheleinheiten der Initiatorin Hillary Clinton den Plan weiter strikt ab. Anfang Juni wurden denn auch die ersten Entwürfe in den zuständigen Senatsausschüssen zerrupft; Moynihan präsentierte einen eigenen Vorschlag, um Clinton zu beweisen, wie aussichtslos sein ursprüngliches Vorhaben sein werde, falls er sich beim universellen Versicherungsschutz und der Arbeitgeber-Finanzierung nicht kompromißbereit zeige.

Dabei ist das bisherige Gesundheitssystem ein Paradebeispiel für den vernichtenden Erfolg des US- Kapitalismus: 900 Milliarden Dollar geben die Vereinigten Staaten für ihr Gesundheitswesen im Jahr aus, und wenn die Kosten weiter so sprunghaft ansteigen wie bisher, wird das 15 Millionen Beschäftigte zählende Unternehmen im Jahr 2000 ein Fünftel der gesamten Wirtschaftsleistung verschlingen. Ohne staatliche Auflagen und ausschließlich am Markt orientiert, treibt das Gesundheitssystem nicht nur das Land in den Bankrott, es ist zudem zu einem ethischen Problem ersten Ranges geworden. 37 Millionen Menschen haben keinen Krankenschutz, die Mehrzahl davon Kinder. Behandeln läßt sich nur, wer nicht mehr anders kann; die horrenden Rechnungen treiben Familien reihenweise in den Ruin. Und nicht nur das: Ganze Regionen leiden unter allgemeinmedizinischer Unterversorung, da das boomende Geschäft mit der Gesundheit allein die Spezialiserung fördert. Trotz der eklatanten Defizite im sozialen Bereich fällt es Clinton immer schwerer, seine ellenlange Wunschliste notwendiger Reformen durchzusetzen — und das nicht nur wegen horrender Staatsverschuldung, hohen Haushaltsdefiziten oder zunehmenden Fehlbeträgen in den Sozialetats. Auch wenn laut Arthur Schlesingers Thesen von der Abfolge politischer Zyklen die „öffentliche Verpflichtung“ gegenüber den privaten Exzessen der Reaganomics-Ära an Boden gewinnt, die Skepsis gegenüber einer ausufernden Sozialpolitik läßt sich so schnell nicht abbauen. Amerika ist ein Land der Individualisten geblieben, in dem der Traum vom selbstgeschaffenen Wohlstand unerschütterbar erscheint und nur ein begrenztes Gespür für gemeinschaftliche Werte zuläßt. Daß es so bleibt, dafür hat schon Ronald Reagan vorgesorgt: Durch sein Schulden-Vermächtnis wird jede größere sozialpolitische Initiative bereits im Keim erstickt.