Auf der Flaniermeile zum Mittelstand

Eine russische Provinzregierung will als erste den Anschluß an westeuropäischen Lebensstandard schaffen / Aber auch die Angst vor der Massenarbeitslosigkeit nimmt zu  ■ Aus Nischni Nowgorod Donata Riedel

Steile Stufen führen hinab in ein freundliches Stehcafé. Wie in Italien treffen sich hier nach der Arbeit, in der Mittagspause oder während des Einkaufsbummels die unterschiedlichsten Leute. Die Mokko-Bar aber liegt in der Fußgängerzone von Nischni Nowgorod an der Wolga, 400 Kilometer östlich von Moskau. Der Wirt, ein dunkelgelockter Mittdreißiger, bedient mit sicheren Handgriffen die Espressomaschine, während er mit den Gästen über das Wetter und die Wirtschaftslage plaudert – beides kann nur besser werden. Seine Mutter arrangiert Süßigkeiten, und in den Stoßzeiten am Nachmittag hilft ein Freund, die Tassen zu spülen.

„Endlich normal leben.“ Diese größte Sehnsucht aller Russen nach dem Alltag des westeuropäischen Mittelstands will Boris Nemzow, der von Jelzin eingesetzte Gouverneur, in seiner Provinz schneller gestillt sehen als im Rest des Riesenlandes. Nicht bremsen, sondern forcieren will der 34jährige, der seinen ersten politischen Erfolg im Kampf gegen ein geplantes atomares Heizkraftwerk mitten in der Stadt hatte, die Wirtschaftsreformen. Er warb die Weltbank- Tochter International Finance Corporation (IFC) als Wegbegleiter an. Deren russischsprechende US-Berater begannen zunächst in der 1,5 Millionen Einwohner zählenden Stadt, die Geschäfte und Gaststätten an die Belegschaften zu versteigern. Nach und nach entwickelten sie die Modelle, die für die Privatisierung in ganz Rußland zum Vorbild wurden.

Den Erfolg der kleinen Privatisierung kann man heute sehen. Schneller noch als in Moskau ist städtisches Leben in das Zentrum zurückgekehrt. Dabei war Nischni Nowgorod seit dem Krieg eine verbotene Stadt, für deren Besuch sogar Sowjetbürger eine Genehmigung beim Kriegsministerium beantragen mußten. Von Stalin in „Gorki“ umbenannt, verschwand die drittgrößte und einstmals reichste Stadt Rußlands während des Kalten Krieges aus dem Gedächtnis der westlichen Welt. Gerade noch erinnert man sich an Gorki, den Verbannungsort Sacharows.

Bevor die Stadt in den dreißiger und vierziger Jahren zum wichtigsten Ort der sowjetischen Rüstungsindustrie werden mußte, war die „Untere Neustadt“ am Zusammenfluß von Wolga und Oka Rußlands berühmteste Handelsstadt. Ihr „Jahrmarkt“, die größte Messe der damaligen Zeit, zog Kaufleute aus aller Welt an.

Während heute in Moskau die Menschenmassen sich noch immer auf der Jagd nach Schnäppchen durch die Einkaufsmeilen schieben, wird auf Nischnis Pokrowkaja-Straße wieder flaniert. Die Stühle der Straßencafés und die Bänke vor dem Stadttheater laden zu Pausen ein. In die Erd- und Kellergeschosse der Jugendstilhäuser sind kleine Läden zurückgekehrt. Anders als in den Städten Rußlands üblich, dürfen auch Familienbetriebe ein Geschäft pachten. So gibt es in Nischni deutlich weniger Budenkioske als in Moskau, weil sich der Einzelhandel in den Ladenzeilen abspielen kann. Den Kaffee in der Mokko-Bar und die Pizza im Schnellimbiß gegenüber können sich auch russische Normalverdiener leisten. Und die Lebensmittelpreise liegen um bis zu 30 Prozent unter denen Moskaus.

Der Wirt der Mokko-Bar blickt dennoch sorgenvoll in die Zukunft. Die Angst vor der Massenarbeitslosigkeit ist auch in die Reformmodellstadt eingekehrt. Manch einer der Stammgäste, der zum Espresso früher zwei Eclairs verspeiste, läßt es bei einem bewenden oder kommt nur noch jeden zweiten Tag. Auch im Kreml, der backsteinernen Festung aus dem 16. Jahrhundert hoch über der Wolga, sind die optimistischen Gesichter der jungen Verwaltungselite – kaum jemand aus Nemzows Truppe ist älter als vierzig Jahre – nachdenklicher geworden. Denn die Industrieproduktion in der Stadt und dem gleichnamigen umliegenden Gebiet mit zusammen 3,7 Millionen Einwohnern ist nun doch eingebrochen.

1992 und 1993 war der Produktionsrückgang stets geringer ausgefallen als im Rest des Landes, hatte Igor Makajew, Direktor der Abteilung für internationale Beziehungen, noch im Dezember betont. Von Januar bis Juni 1994 fiel die Produktion jedoch plötzlich um 34 Prozent – in Gesamtrußland nur um 25 Prozent. „Und wenn ich nicht mehr weiterweiß, gründ' ich einen Arbeitskreis“, muß sich Gouverneur Nemzow gedacht haben, und berief Wladimir Jefremow zum Vorsitzenden des neugegründeten Komitees für Industriepolitik und Investitionen. Der Ökonomieprofessor blickt auf eine langjährige Karriere im Atombombenzentrum Arsamas-16 und im Moskauer Atomministerium zurück. Das bedeutet: Er verfügt über allerbeste Kontakte zur Moskauer Nomenklatura.

„Die Regierung in Moskau muß vor allem drei Dinge tun“, doziert Jefremow in seinem Büro. „Erstens brauchen wir eine Steuerreform zugunsten der Unternehmen. Nur so gibt es eine Chance, daß die Milliarden Dollar, die russische Unternehmer im Ausland angelegt haben, zurückkommen. Zweitens muß die Regierung Auslandsinvestitionen absichern. Und drittens muß es für eine Übergangszeit Subventionen für Konversionsbetriebe geben. Wenn die Regierung das nicht tut, wird sie den Spätherbst nicht überleben.“

Ums Überleben kämpfen vor allem die Rüstungsbetriebe – und das ist hier ein Drittel der Industrie. Aus dieser Provinz stammt der legendäre Weltkrieg-II-Panzer T-34, hier werden MiG-Flugzeuge hergestellt, wurden atomgetriebene U-Boote und Atombomben gebaut. Die hochangesehenen Betriebe müssen die Erfahrung machen, daß ihre Produkte überflüssig sind, seit 1992 die Gaidar-Regierung 80 Prozent der Rüstungsaufträge gestrichen hat. Zwar gibt es genug Kriege auf der Welt. Doch die Waffen der Supermacht, konzipiert für den High-Tech- Krieg gegen die USA, würden sich für den Einsatz in den neuen Konfliktherden kaum eignen.

Bislang gibt es 23.000 Arbeitslose in der Region. Ulrich Schmidt von der West-LB-Tochter Deutsche Industrie Consult (DIC), der seit einem Jahr regelmäßig in Nischni Nowgorod Firmen berät, erklärt sich die niedrige Zahl folgendermaßen: „Kein Manager will hier der erste sein, der in großem Umfang entläßt.“ Schmidt befürchtet aber, daß viele Firmen im Herbst den Personalbestand verkleinern müssen. „Und wenn ein Betrieb anfängt, ziehen die anderen sofort nach.“ Auch die verdeckte Arbeitslosigkeit wächst. Viele Firmen arbeiten nur drei bis vier Tage pro Woche, legen, ebenfalls ohne Lohnausgleich, Betriebsferien ein oder zahlen die Löhne um Monate verspätet. Die Industriearbeiter, die während der Sowjetzeit am besten bezahlt wurden, erreichen nun in den seltensten Fällen den russischen Durchschnittslohn von 200.000 Rubeln (knapp 200 Mark). Und vor den Fenstern der Mokko-Bar sind jetzt mehr Menschen zu sehen, die sich dem Wodka ergeben haben. Es sind nicht, wie im vorigen Jahr, allein die alten Leute, die unter die Armutsgrenze rutschen, sondern immer mehr Männer in mittleren Jahren.

Gleichzeitig nehmen Handel und Dienstleistungen einen sichtbaren Aufschwung. Die Schaufenster der Kleidergeschäfte, noch im Winter Ablageplatz für Kartons, sind heute dekoriert, manch ein Geschäft frisch gestrichen. In der Majakowski-Straße nahe dem Fähranleger für die Wolgaschiffe ist eine zweite Einkaufsmeile entstanden.

Den Weg zur Marktwirtschaft wollten allerdings auch in Nischni nicht alle begeistert mitgehen. Noch im Winter verweigerte sich das Management des größten Kombinats, der „Gorkier Automobilfabrik“ (GAS), jeder Reform. Nach altem Tonnendenken wurden dort massenweise Wolga- Limousinen auf Halde produziert. Inzwischen wurde das Management des Kombinats, das einschließlich seiner Tochterfirmen 150.000 Menschen beschäftigt und auch Panzer und andere Rüstungsgüter produziert, ausgewechselt. Gouverneur Nemzow wird jetzt immerhin empfangen. Und die Wolga-Limousinen wird GAS für 12 Millionen Rubel (knapp 12.000 Mark) inzwischen wieder los. Denn die Jelzin-Regierung erhebt heute auf die beliebteren Autos aus Deutschland 40 Prozent Importzoll.

Gleichzeitig hat sich ein findiger Mittelstandsunternehmer darauf spezialisiert, die robusten Autos zu Luxuslimousinen aufzumotzen, um sie für 27 Millionen Rubel weiterzuverkaufen. Absatzprobleme kennt der Automechaniker nicht: Fünfzig Luxuswolgas schafft sein 30-Personen-Betrieb pro Monat.

„Wir haben den Markt verstanden. Deshalb sind wir nicht eingegangen.“ Galina Balakina, Generaldirektorin der Textilfirma Majak, hat nicht nur den obligatorischen Lenin in ihrem Büro abgehängt, sondern auch das Sortiment ihres Unternehmens, das 3.300 Menschen beschäftigt, umgekrempelt. „Früher haben wir das ganze Jahr Wintermäntel genäht, heute produzieren wir, was der Markt verlangt.“ In dem denkmalwürdigen Fabrikgebäude aus dem Jahr 1915 am Wolgaufer stehen neue Näh- und Zuschneidemaschinen aus der Bundesrepublik. Die Fabrik hat sie 1990 im Rahmen eines deutsch-russischen Modernisierungsprogramms bekommen. Sie brachten Aufträge für Lohnfertigung aus Deutschland, Italien und den USA ein.

Damit aber der Aufschwung in der Modellregion sich selber trägt, brauchen die Reformer kapitalkräftige Investoren. Davon gibt es bislang immerhin einen. Die Shampoo-Firma Wella hat im Chemiegebiet der Stadt Dserschinsk, 40 Kilometer außerhalb Nischni Nowgorods, 25 Millionen Mark in eine Fabrik für Haarwaschmittel investiert, die sie gemeinsam mit dem Chemiekombinat Caprolactam betreibt. Der deutsche Betriebsleiter Michael Matthias, ein gebürtiger Thüringer, ist überzeugt, daß man in Rußland auf Dauer nur Profite machen kann, wenn man im Land produziert.

Um fremde Kapitalisten anzulocken, versucht die Stadt an ihre reiche Kaufmannsepoche anzuknüpfen. Der Jahrmarkt wird wiederbelebt, als Höhepunkt findet im September eine Konversionsausstellung statt, Tatjana Sorokina, die Protokollchefin der Messegesellschaft „Jarmarka“, hofft auf westliche Besucher. Noch allerdings ist das Ausstellungsgelände klein. Bis zum Jahr 1996, wenn sich das Datum der Weltausstellung in Nischni Nowgorod zum hundertsten Mal jährt, soll das neue Internationale Handelszentrum mit Luxushotel und Ausstellungshallen aus der Baugrube wachsen.

Russische Revolutionen kamen stets von oben. „Politische Stabilität“ verheißen die Wirtschaftsreformer um Gouverneur Nemzow. Demokratie gehört nicht unbedingt dazu. So sollte im März der Bürgermeister neu gewählt werden. Als sich abzeichnete, daß nicht Nemzows Kandidat, sondern sein politischer Gegner gewinnen würde, trat Nemzows Kandidat zurück. Damit war die Wahl geplatzt. Wenige Tage später holte sich Nemzow bei Jelzin ein Dekret, das seinen Freund Jewgeni Krestjaninow in das Amt einsetzte.

Proteste gegen die Honoratiorenherrschaft der Wirtschaftsreformer sind bislang nicht laut geworden. In der Mokko-Bar verbreiten Pink Floyd und die Beatles Flower-power-Flair. Die Decke ist mit Eierkartons beklebt. Und an der Wand hängen, gut lesbar, die Bürgerrechte der russischen Verfassung aus.