: „Ich heiße jetzt 6153“
■ Isabella Mamatis inszenierte „Apokalypse unserer Tage“ nach Albert Christel im Theater Zerbrochene Fenster
Einer kniet am Boden. Zwei andere haben seine Hände eingemauert und ihm eine Schlinge um den Hals gelegt. „Du sollst sagen: Ich bin ein Arschbackengesicht“, brüllt der Jüngere. Und brüllt es immer wieder und schaut dabei auf den Älteren, der ruhig danebensteht, und der am Boden sagt nichts, und der Jüngere wird ganz rot im Gesicht, und seine Stimme schnappt über.
Der am Boden könnte ein dicklicher Klassenerster sein, ein Ausländer, eigentlich jeder, der als einzelner mehr als einen gegen sich hat. Diese Szene mit Harry Blank, Christian Bleyhoeffer und Ralf Koeber spielt im KZ Sachsenhausen – eine Erinnerung von Albert Christel. Christel war zwischen 1939 und 1945 in verschiedenen Lagern interniert, er überlebte und schrieb ein Buch über Sachsenhausen, das niemand verlegen wollte, weil es „zu sachlich“ sei, wie der Programmzettel der Inszenierung informiert. Isabella Mamatis hat aus diesen Beobachtungen und Reflexionen einen dreistimmigen Theatertext erstellt, dessen beunruhigende Plastizität gerade auf dieser Schlichtheit beruht.
Deportation, Zwangsarbeit, Demütigungen der jüdischen, kommunistischen und anderen Häftlinge werden knapp beleuchtet, die Veränderung des Individuums hinter dem Stacheldraht. Christel zeichnete Gespräche zwischen Tätern und zwischen Opfern auf, die Angst, den Neid und den Sadismus in beiden Gruppen – die Verhaltensmuster ähneln sich, gehen ineinander über, während die tatsächlichen Machtverhältnisse unumkehrbar bleiben. Einmal sind drei Internierte geflohen. Sie kamen nicht weit. Derweil sind 120 von den anderen, die solange im Hof stehen mußten, an Schwäche gestorben. Individuelles Handeln ist nicht mehr möglich, wer an sich selbst denkt, wird zum Mörder – „Ich heiße jetzt 6153“.
Die drei Schauspieler bewegen sich akkurat abgezirkelt, wie auf unsichtbaren Schienen. Mal trippelt einer auf den Hacken, ein anderer dreht die Füße nach außen und wippt in den Knien. Mehr braucht es hier kaum, um Rollen- und Perspektivenwechsel anzuzeigen. Die Mimik ist puppenhaft, die Stimmlage bleibt – Szene für Szene – im jeweils gefundenen Ton: eine Lagermaschine. Die Ausstattung besteht aus kleinen grauen Pflastersteinklötzen unter nackten Glühbirnen. Sie werden umgeschichtet, werden zu Bett, Stuhl, Sammellatrine, Folterinstrument.
In kaum mehr als 60 Minuten markiert Isabella Mamatis das Grauen der speziellen Lagersituation. Und sie zeigt das Allgemeine in diesem Überlebenskampf, zeigt tatsächlich eine „Apokalypse unserer Tage“. Das ist nicht selten grotesk, ausnahmslos vorzüglich gespielt, und nur ein einziges Mal werden zwei Worte zuviel gesprochen. Welche das sind, soll jeder selbst herausfinden. Petra Kohse
Bis 7.8., Fr–Di., 21 Uhr, Theater Zerbrochene Fenster, Fidicinstraße 3, Kreuzberg.
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