Der Alltag ist suspendiert

■ Das letzte mexikanische Fußball-Erfolgserlebnis endete tödlich, diesmal sollte die „fiesta mexicana“ anders werden

Mexiko (taz) – Der Taxifahrer bleibt cool: „Die Mexikaner sind eben ein leidenschaftliches Völkchen“, meint er grinsend, als ich ihn besorgt nach der allseits erwarteten Randale beim Achtelfinalspiel gegen Bulgarien frage. Geschickt manövriert er seinen gelben Käfer durch das Meer von grün-weiß-roten Fähnchen, die sich schon am Nachmittag an den Bürgersteigen des Stadtzentrums verteilen. Der Alltag scheint für ein paar Stunden suspendiert in der 20-Millionen-Metropole: Ganze Betriebe machen blau, Verwaltungen liegen lahm, selbst das Abgeordnetenhaus ist dicht. In Restaurants und Zeitungsredaktionen, an Taco-Ständen und in Büros sitzt man siegesgewiß vor den Fernsehschirmen: Schließlich hatte man die Bulgaren schon vor acht Jahren mit einem satten 2:0 aus dem Feld geschlagen.

Für alle Fälle aber hatten gläubige Fans auch die Schutzheilige der Nation, die Jungfrau von Guadalupe, um Beistand gebeten. Statuen von Heiligen bekamen zur Unterstützung ein Fußballtrikot übergezogen. Es konnte also nichts mehr schiefgehen.

Das Spiel ist aus – für die mexikanische Nationalmannschaft. Und auch im leidenschaftlichen Mexiko wird es merklich kühler: betretene Gesichter allerorten, hier und dort Tränen. Stille machte sich breit auf den Straßen, nur vereinzelt Hupkonzerte. Die nationalfarbenen Tröten aber bleiben in Plastiktüten verpackt am Straßenrand stehen. Verloren wirken die Fähnchen mit dem stolzen mexikanischen Adler, die auf den Karosserien flattern. Ein paar Unermüdliche schwenken trotzig ihr grün- rot-weißes Banner und ziehen in kleinen Trupps über die abgesperrten Fahrbahnen.

Dennoch kreisen auch in den Abendstunden die Hubschrauber der Stadtpolizei noch über den Straßen. Vergleichsweise glimpflich aber gehen die frustigen Feiern über die Bühne: 45 Festnahmen und 20 Leichtverletzte zählt die Polizei, „nur“ ein „paar Dutzend“ Stöcke und Wurfgeschosse seien an den Absperrungen beschlagnahmt worden. Stunden zuvor hatte mir der Taxifahrer in einer ketzerischen Anwandlung anvertraut, er selbst wisse nicht, was er den Nationalkickern wünschen solle: „Sieg oder Niederlage?“

Und das aus gutem Grund: Eine Woche zuvor hatte der Fußballsieg einen grausigen Nachgeschmack. Das Freudenfest über das überraschende Unentschieden gegen das italienische Team – das den Mexikanern erstmals den Einzug in ein WM-Achtelfinale im Ausland beschert hatte – verwandelte sich binnen weniger Stunden in eine Massenschlägerei mit tödlichem Ausgang. Nicht weniger als eine halbe Million Menschen war ausgezogen, um das „historische Patt“ auf den Straßen zu feiern. Wie immer traf man sich dazu am „Engel der Unabhängigkeit“, einer Art mexikanischer Siegessäule und Wahrzeichen nationalen Stolzes, auf dem ehemaligen Prachtboulevard im Stadtzentrum. Die Fans tanzten, sangen und soffen sich in Ekstase. Der Rausch kippte, als verfeindete Jugendgangs begannen, aufeinander einzuschlagen.

„Degeneration beim Engel“ titelte am Tag danach angeekelt eine Tageszeitung. Fotos und Augenzeugen berichteten von Frauen, denen inmitten eines grölenden Männerpulks die Kleider vom Leib gerissen wurden. Andere Trupps hatten offensichtlich ihre helle Freude daran, ihre Opfer mit Holzstangen und Flaschen zu Boden zu prügeln. Weder die beschwörenden Transparente der Stadtverwaltung – „Respekt vor unseren Denkmälern“ und „Halten wir den Namen Mexikos in Ehren“ – noch eilends herangekarrte Mariachi-Gruppen konnten den Hooligans à la mexicana Einhalt gebieten. Und auch die paar tausend Polizeibeamte standen der aufgeheizten Menge zunächst hilflos gegenüber.

Über 150 Verletzte und mehr als 80 Festnahmen blieben schließlich übrig vom nationalen Taumel. Drei Menschen verloren dabei ihr Leben. Der 26jährige Jaime wollte seine Videokamera nicht hergeben; Umstehende stießen ihn zu Boden und schlugen weiter auf ihn ein. Schließlich landete ein Sprengkörper neben seinem Kopf, der genau in dem Moment explodierte, als seine Frau das Geschoß aufheben wollte. Sie verlor mehrere Finger, ihrem Mann wurde der halbe Schädel weggesprengt. Der 20jährige Roan fiel aus einem der fast 600 öffentlichen Busse, die von Fans im Siegestaumel „entführt“ wurden und stundenlang über die Fahrbahnen rasten; drei Stunden später starb der Junge auf der Intensivstation. Dem 17jährigen Manuel schließlich zerschlug jemand eine Flasche über dem Kopf; nach wenigen Tagen erlag auch er seinen Kopfverletzungen. Weitere Schwerverletzte schweben bis heute in Lebensgefahr.

Das alles sollte sich eine Woche später nicht wiederholen. Man wähnte sich gut gerüstet: Wagenladungen voll berittener Polizei waren in den Nebenstraßen postiert. Zehntausende von Polizisten würden die Siegesfeier überwachen, verkündeten noch die Mittagszeitungen und warnten in ihren Schlagzeilen allzu übermütige Fans: „Es wird Gefängnis geben!“ Mehrere tausend Ordnungshüter sollten sich gar als Zivile unter die Feiernden mischen und „Randalierer“ sofort isolieren. Auch das wenig beliebte „Trockengesetz“ trat ausnahmsweise in Kraft: das „ley seca“, sonst nur den Nationalfeiertagen und dem Regierungsbericht des Präsidenten vorbehalten, verbietet jeglichen Ausschank von alkoholischen Getränken. Die wüste Feterei ganz zu verbieten, traute sich allerdings niemand. Bürgermeister Manuel Aguilera: „Wir sind eben so wild auf Siege; wenn wir sie dann haben, wollen wir sie feiern, wie es nur geht.“ Anne Hufschmid