Der liebe Gott steckt im Detail

Eine Tagung über „Formen der Wissensvermittlung“ von Mikrobiologie bis Kabbala im Potsdamer Einstein-Forum in heiterer Atmosphäre  ■ Von Rüdiger Zill

Das Potsdamer Einstein-Forum ist eine Form der Wissensvermittlung. Am letzten Wochenende luden die Brandenburger in die Villa Kellermann – idyllisch gelegen am vor Hitze flirrenden Heiligen See, vis-à-vis grüßt der Cecilienhof –, um dort genau dieses Thema zu verhandeln: „Formen der Wissensvermittlung“ oder „Forms of Transmission“, wie der englische Titel des zweisprachigen Symposiums noch etwas großzügiger formulierte.

Weil man hier aber aus den institutionellen Kinderschuhen noch kaum entwachsen ist – Gründungsdatum des Forums ist 1992 –, lud man sich Kollegen einer renommierten älteren Einrichtung ein: Der derzeitige Direktor des Londoner Warburg-Instituts, Nicolas Mann, offerierte den über hundert Zuhörern die Geschichte seines Instituts nach der Emigration aus Hamburg im Jahre 1933. Zweifellos hielt er sich dabei an das Motto des Gründervaters Aby Warburg: „Der liebe Gott steckt im Detail.“

Wenn in sechzig Jahren einmal jemand einen ebensolchen Vortrag über das Einstein-Forum hält, dann wird diese Tagung sicherlich nicht darin fehlen. Immerhin war von der Kunstgeschichte bis zur Molekularbiologie alles vertreten, um sich über die Formen der Wissensvermittlung seine Gedanken zu machen. Obwohl die Firma IBM einer der großzügigen Sponsoren dieses Treffens war, bediente man sich dabei allerdings einer sehr traditionellen Form der Wissensvermittlung: des mündlichen Vortrags. Und später werden alle Referate dann in einem Sammelband vorliegen. Wort und Schrift sind also immer noch die Königswege der Wissensvermittlung – aber vielleicht ist das ein Generationsproblem. Nur Norbert Bolz sprach im Stil eines Verkaufsagenten, der im Souterrain von Karstadt elektrische Gurkenschälmesser anpreist, über die Wohltaten der Neuen Medien. Seine These – aber nein, die kennen Sie ja schon.

Die zwischen Wort und Cyberspace vermittelnde Instanz in der großen Kette der medialen Wesen ist das Bild. Seine Rechte wurden durch zwei Kunsthistoriker vertreten. Der Panofsky-Schüler Moshe Barash aus Jerusalem hielt den Eröffnungsvortrag. Anhand der „Verklärung Christi“ von Raffael untersuchte er die Darstellung des Epileptikers, die weniger Resultat einer genauen Naturnachahmung war als vielmehr Produkt einer tradierten Formelsprache, in der das Wesen dieser Krankheit auch mit den Konnotationen weiblicher Verführungskräfte aufgeladen werden sollte. Horst Bredekamp skizzierte die Verschränkung von magischen und allegorischen Bedeutungen auf dem Frontispiz zu Thomas Hobbes „Leviathan“.

All diese Formen der Wissensvermittlung – das Wort, das Bild, die Institutionen – treffen sich in einer weiteren Institution, der des Museums. Der Schweizer Kunsthistoriker Kurt W. Forster erläuterte seine These, daß auch in die Architektur Wissen eingeschrieben ist, daß „Gebäude als Archive und Verliese des Wissens“ zu verstehen sind, unter anderem am Berliner Bau des Jüdischen Museums von Daniel Libeskind. Gerade hier, wo es darum geht, nicht nur Geschichte darzustellen, sondern auch das eigentlich nicht Darstellbare zu evozieren, etwas nicht mehr Vorhandenes, nämlich die im Holocaust ermordeten Berliner Juden – auch da müsse die Form mit dem Inhalt korrespondieren. Was innen dokumentiert wird, soll seine Entsprechung in der architektonischen Gestalt finden. Damit überschreitet die Frage nach der Wissensvermittlung aber den engen Horizont der Institutionen und Medien: Wissen ist untrennbar eingebettet in eine bestimmte Form der Erinnerung, der Tradition, ja des Lebens überhaupt. Dies erscheint in ganz anderer Art und Weise auch bei der Tradierung ihres geheimen Wissens durch die katalanischen Kabbalisten des 13. Jahrhunderts. Moshe Idel, Professor für jüdische Mystik in Jerusalem, weihte das staunende Publikum ein Stück weit hierin ein. Was den Kabbalisten bei der Wissensvermittlung bedeutsam erschien, war nicht nur der Inhalt des Übermittelten, sondern auch der Akt der Übermittlung selbst, das Verhältnis des Schülers zum Lehrer, das kulturelle Bild, der Kontext. Allerdings ist in der Geschichte der Kabbalisten eine konservative Phase von einer innovatorischen zu unterscheiden. In der innovatorischen Phase wurde die Autorität des Rabbi mehr durch die persönliche Entdeckungskraft jedes einzelnen ersetzt. Beide Phasen eint aber ein Wissensverständnis, für das die Annäherung an das Wissen eine zutiefst persönliche, experimentelle ist, die sich für jeden neu vollzog und niemals einen egalitären Maßstab anlegte.

Als das perfekte Gegenstück zu Idel mutete da der Vortrag von Jan Assmann, Ägyptologe aus Heidelberg, an. Warum finden lebendig verkörperte Erinnerungen – so seine Frage – ihren Tod in der Tradition? Anders gefragt: Warum werden Texte mit Autorität aufgeladen, wie kommt es zur Kanonisierung sogenannter heiliger Texte? Assmann stellt seine Überlegungen anhand der hebräischen Bibel an, um dann generelle Kriterien dafür zu finden, warum ein Text auf unabänderbare Weise verschriftlicht wird. Und unabänderlich heißt: Der Text darf nicht fortgeschrieben werden, seine Endgestalt hat absolute normative Verbindlichkeit. Abweichende Meinungen können also nur noch erscheinen in einem Kommentar, der den heiligen Text auf neue Weise zu interpretieren versucht. Solch eine Kanonisierung ist für Assmann immer Resultat einer Krise. Diese Kanonisierung hinterläßt aber auch durch ihren Zwang zur Interpretation eine bestimmte Expertenkultur.

Eine ganz andere Form der Expertenkultur, in der die persönliche partikularistische Form der Wissensvermittlung ebenfalls durch eine egalitäre abgelöst wird, ist die der modernen Wissenschaft. Genau diese Depersonalisierung der modernen szientifischen Wissensvermittlung betont auch der Biophysiker Henri Atlan. Diese Entwicklung hat eine doppelte Konsequenz. Zum einen geht die Macht der Priester auf die Wissenschaftler über – doch auch sie haben sie mit dem Absterben des Fortschrittsoptimismus wieder verloren. Zum anderen hinterlassen die depersonalisierten Systeme auch die Gefahr einer Entmenschlichung. Gerade in der Medizin führt das in letzter Zeit zu den entsprechenden Gegenreaktionen.

Da erscheint es dann als eine späte Gegenreaktion der Wissenschaft selbst, wenn der Wissenschaftshistoriker und Molekularbiologe Hans-Jörg Rheinberger am Objektivitätsmythos sogar der Naturwissenschaften kratzt. Was der Wissenschaftler im Buch der Natur liest, ist nur, was er ihr selbst eingeschrieben hat – fast so, als sei er nun seinerseits in ein persönliches Verhältnis der Natur getreten.

Rheinberger geht dabei von Derridas Begriffen der Schrift, der Spur und des Graphems aus. Was im wissenschaftlichen Experiment erscheint, ist danach nicht die unverstellte Natur, die Dinge, so wie sie sind, sondern es sind „epistemische Dinge“, also von uns immer schon bearbeitete Natur. Im Experiment wird den Untersuchungsgegenständen etwas „eingeschrieben“. Bei der Genanalyse und -kartographierung muß das Untersuchte immer markiert werden, damit es für uns überhaupt erst wahrnehmbar wird. Wir interpretieren dann immer nur Repräsentationssysteme durch andere Repräsentationssysteme.

Einen Artikel über eine Tagung zu schreiben ist auch eine Form der Wissensvermittlung, eine Form, die in die Abteilung „Reduktion von Komplexität“ fällt. Wem das vorliegende Ergebnis nun zu reduziert erscheint, wer grobe Schnitzer entdeckt, der mag das nicht nur den Grenzen des Mediums zuschreiben, sondern auch den Grenzen meiner Kompetenz.

Wer kann schon wie einst Kapitän Nemo Meister aller Disziplinen sein? Oder sollte das auch ein Mangel der Vorträge sein? Vielleicht sollte man kritisieren, daß die Einladungspolitik der Veranstalter zu sehr von Beliebigkeit regiert war. Vielleicht sollte man benörgeln, daß die einzelnen Disziplinen, die hier zusammenkamen, sich doch zu sehr innerhalb ihrer eigenen Grenzen bewegt haben.

Aber nein, das schreibe ich ja über alle Kongresse. Schließen wir also lieber so: Trotz des drückenden Klimas war die Atmosphäre sehr heiter und angenehm.