Am 15. und 16. April 1994 trafen sich im Schloß von Litomyl in Tschechien sieben Staatspräsidenten aus sieben Ländern Mitteleuropas - Deutschland, Österreich, Ungarn, Polen, Tschechien, Slowakei und Slowenien -, um die Perspektiven ...

Jacques Rupnik:Ich schlage vor, daß wir die Debatte um zwei zentrale Themen kreisen lassen.

– Die Integration in den größeren europäischen Zusammenhang: Mit dem Ende des Kalten Krieges ist der geopolitische Schwerpunkt Europas nach Osten gewandert. Aber zugleich befindet sich seit dem Verschwinden des Comecon und des Warschauer Pakts der institutionelle Schwerpunkt Europas im Westen – dort haben die Europäische Union und die Nato ihren Sitz. Mitteleuropa ist der Knotenpunkt dieser paradoxen Tendenzen. Anders ausgedrückt: Ist Mitteleuropa für Europa eine zentrale Frage?

– Die Sicherheit: Wie ist, angesichts der Bedrohungen, die aus dem Balkankonflikt und aus der russischen Rückkehr zur Großmachtpolitik erwachsen, die Sicherheit Mitteleuropas zu gewährleisten? Bis wohin erstreckt sich das „nahe Ausland“ für die Russen? Was bedeutet in diesem Zusammenhang die von der Nato angebotene „Friedenspartnerschaft“, die Rußland zugleich einschließt?

Aber zunächst: Wie würden die sieben Präsidenten aus den sieben Ländern, die ihm angehören, Mitteleuropa definieren?

Arpád Göncz, Ungarn: Ich glaube nicht, daß man Mitteleuropa definieren kann. Das ist ein amorpher Begriff, eine ökonomische und soziale Leerstelle zwischen dem politischen Europa und Rußland. Die Staatssysteme sind dieselben. Aber die Geschichte hat bewirkt, daß sich die östlichen Länder nicht entwickeln konnten. Die postkommunistischen Staaten haben identische Deformationen erlitten. Wir benutzen das gleiche Vokabular, können uns durch bloße Andeutungen verständigen. Aber unter uns sind ja auch ein paar Repräsentanten aus Ländern, die der Europäischen Union angehören – oder zumindest bald in sie eintreten wie Österreich – und die treibende Kraft Mitteleuropas sind.

Lech Walesa, Polen: Für mich bedeutet das Reden von Mitteleuropa nichts weiter als eine neuerliche Teilung Europas. Gewiß, es gibt einen geographischen Westen, Osten, Süden und Norden. Aber der eigentliche Begriff ist schlicht der eines Europas. Da existieren historisch bedingte Unterschiede, aber zugleich gibt es große Probleme, die keine Grenzen kennen. Zwar lassen sich diese Unterschiede nicht von einem Tag auf den anderen auswischen, aber ich hoffe doch, daß wir in den Gebieten, die uns alle betreffen, z.B. der Sicherheit der Atomkraftwerke, zusammenarbeiten und uns in immer mehr Dingen einigen können.

Thomas Klestil, Österreich: Auch mir scheint eine Definition des Begriffs Mitteleuropa unmöglich. All die Nationen in diesem kleinen Gebiet mußten sich mit Druck aus dem Osten und dem Westen auseinandersetzen. Vorherrschaft Deutschlands, Vorherrschaft Rußlands. Vom historischen Standpunkt ist es wirklich das erste Mal, daß sie Gelegenheit haben, sich zu behaupten. Und sie tun es, indem sie sich auf Demokratie und Menschenrechte berufen. Heute kann die Europäische Union, diese Insel der Stabilität, auch der Geburtsort Europas werden.

Milan Kučan, Slowenien: Für mich ist Mitteleuropa zunächst eine Idee. Sie ist nicht leicht zu definieren, und wenn man es tut, kann man nicht vom gesamteuropäischen Zusammenhang absehen. Mitteleuropa existiert im Geist der Mitteleuropäer, das ist unbestritten. Aber heute muß man ihm einen Inhalt geben, der, frei von aller Nostalgie, der europäischen Wirklichkeit gerecht wird. Es gibt hier eine große Menge kleiner Nationen mit unterschiedlichen Kulturen und Identitäten. Wenn es zu einer wirklichen europäischen Integration kommen soll, dann wird es, um Milan Kundera zu zitieren, Aufgabe der Mitteleuropäer sein, möglichst viel Pluralismus auf einem möglichst kleinen Raum zu verwirklichen.

Václav Havel, Tschechien: Mitteleuropa ist weder leicht zu definieren, noch zu begrenzen. Ich glaube auch nicht, daß sich das lohnt. Dennoch gibt es etwas, was nur diesem Raum eigen ist. Zunächst einmal ist er ein Teil Europas und teilt die Werte, auf denen Europa aufgebaut ist. Aber Europa ist ein vielfältiger Kontinent. Darum ist es wesentlich, daß diese Werte jedesmal eine individuelle Färbung annehmen. Hier wie in Skandinavien, Italien oder Spanien. Man könnte versuchen, die spezifisch mitteleuropäische Färbung zu beschreiben. Aber man kann darauf keinen Begriff Mitteleuropas als unabhängiger politischer Einheit gründen. Mitteleuropa ist in erster Linie Europa. Davon will es ein Teil sein und dazu will es seine eigenen kulturellen und geistigen Werte beitragen.

Richard von Weizsäcker, Deutschland: Zunächst einmal: Ich fühle mich besonders wohl in dieser Kultur Mitteleuropas, in seinen Landschaften, der Urbanität seiner kleinen Städte samt ihren liebenswürdigen Einwohnern. All dies sind zivilisatorische Werte, die wir uns ohne jeden Hintergedanken aneignen sollten.

Aus dem politischen Blickwinkel stellt sich für mein Land die Frage etwas anders dar. Geschichtlich war der Begriff „Mitteleuropa“ für die Deutschen lange Zeit eine Quelle des Konflikts und der Zwietracht mit ihren Nachbarn. Glücklicherweise hat sich das nach dem Zweiten Weltkrieg geändert. Das Bündnis zwischen Frankreich und Deutschland ist nicht nur zum Grundpfeiler unseres politischen Denkens geworden, es stellt auch einen Faktor des Fortschritts für ganz Europa dar. Es liegt im vitalen Interesse der Deutschen, daß die Staaten und Völker Mitteleuropas sich der Europäischen Union anschließen können. Aber diese Integration muß sich im Konsens unserer europäischen Partner vollziehen. Wir haben hier Überzeugungsarbeit zu leisten. Für mich ist klar, daß die Europäische Union erst dann ihren Namen zu Recht trägt, wenn sie die Länder Mitteleuropas einschließt. (...)

Jacques Rupnik: So könnte man zusammenfassen: „Sag' mir, wie du Mitteleuropa definierst, und ich sag' dir, wer du bist ...“ Herr Walesa. Wie beurteilen Sie heute, als Präsident, den Zustand der polnischen Gesellschaft und vielleicht auch den der anderen mitteleuropäischen Länder?

Lech Walesa: Wir müssen begreifen, was uns verbindet und eine zukünftige Vereinigung möglich macht, Werte wie Freiheit, Pluralismus, Demokratie und Marktwirtschaft. Tja, und dann gibt es den Balkan ... Die Freiheit für den einzelnen und für jede einzelne Gruppe, das ist eine schöne Idee. Aber die Freiheit einer Gruppe darf nicht die der anderen gefährden. Es wäre interessant, hierüber zu sprechen, denn es gibt Probleme, deren Lösung man nicht der willkürlichen Entscheidung eines einzelnen Staates überlassen darf. Nehmen Sie die Atomkraftwerke, das Problem ihrer schlechten Wartung und Unsicherheit – eine Bedrohung für die Nachbarstaaten und ihre Bevölkerung. Durch solche Probleme wird die zwischenstaatliche Zusammenarbeit, die Gründung internationaler Gremien zur Notwendigkeit.

Michal Kováč, Slowakei: Ich möchte auf die europäisch-mitteleuropäische Problematik zurückkommen. „Rückkehr nach Europa“, so lautete der Slogan der samtenen Revolution. Obwohl uns bekannt war, daß die Slowakei und die Ex-ČSSR in Europa liegen ... Heute wissen wir, welchen Preis Mitteleuropa dafür zahlen mußte, daß ihm eine demokratische Entwicklung verwehrt wurde. Hierin liegt der unmittelbare Grund für die enormen Unterschiede an politischer Reife und wirtschaftlicher Entwicklung zwischen unseren Nationen. Dennoch stellen wir fest, daß uns eine gewisse Anzahl geistiger, kultureller und sozialer Werte verbindet. Und wir sind uns darüber im klaren, daß uns diese Werte dazu prädestinieren, vollgültige Mitglieder Gesamteuropas zu werden, mit allen Konsequenzen in den Bereichen der Politik, der Wirtschaft und der Sicherheit. (...)

Thomas Klestil: Ich möchte betonen, daß Deutschland uns bei unserer Kandidatur für die Europäische Union nicht deshalb so fest unterstützt hat, um irgendein germanisches Lager zu vergrößern, sondern damit die Union nach dem Eintritt Österreichs über eine Art Landebasis für die anderen mitteleuropäischen Staaten verfügt. Dieser Funktion wird sich Österreich nicht entziehen. Und wir glauben, daß die Kommission in Brüssel genau das von uns erwartet.

Was ich auch sagen möchte, ist, daß die Öffnung der Grenzen nicht nur neue Möglichkeiten, sondern auch Probleme mit sich bringt: Angst vor Migrationen, Angst vor organisierter Kriminalität ... Ich bin Herrn Walesa dankbar, daß er die Probleme angesprochen hat, die vor Grenzen nicht halt machen.

Jacques Rupnik: Man könnte Mitteleuropa heute als den Raum definieren, wo der Übergang zur Marktwirtschaft und die Gründung demokratischer Institutionen gelungen sind. Bleibt die Frage der „civil society“. Ist sie entwickelt genug, damit die Zusammenarbeit in Mitteleuropa mehr ist als nur eine Angelegenheit der Staaten und ihrer Diplomaten?

Václav Havel: Ständig nur an die Pforten des Westens zu pochen und zu sagen, daß wir seine Werte teilen und daß wir aber auch Europäer sind, (...) reicht nicht aus. Damit dürfen wir uns nicht zufriedengeben. Nach Jahrzehnten des Kommunismus, in denen diese Werte unterdrückt wurden, müssen wir sie uns erst einmal aneignen und ihnen Leben einhauchen. Wir müssen an uns und an unseren Gesellschaften arbeiten. Und nicht nur an uns denken, und an die, die uns schützen und helfen sollen. Unsere Zusammenarbeit anbieten, unseren Teil der Verantwortung übernehmen. An dieser moralischen Quelle werden sich die Kräfte nähren, die für die Entwicklung der Demokratie, des Rechtsstaates, der Marktwirtschaft und der „civil society“ vonnöten sind.

Lech Walesa: Der Begriff der „civil society“ ist ein wenig trügerisch. Er setzt voraus, daß alle Bürger – oder zumindest die Mehrheit der Bürger – in der Lage sind, über ihren vollen Rechte zu verfügen und alle Möglichkeiten zu nutzen, die ihnen geboten werden. Aber um das zu können, braucht man schon ein Minimum an wirtschaftlicher Freiheit. Und wenn die „civil society“ bei uns noch nicht alle ihre Möglichkeiten ausschöpft – das wissen wir doch alle –, dann liegt das daran, daß sie noch zu arm ist.

Michal Kováč: Gewöhnlich halten wir die Begriffe der Staatsbürgerschaft und der Nationalität auseinander. Direkt nach dem Fall des Totalitarismus war zunächst einmal der von den Kommunisten verbogene Begriff der bürgerlichen Freiheit zu rehabilitieren. Das war allen bewußt. Aber mit dem Aufbau eines pluralistischen Systems kam eine Reihe von Fragen ans Licht, die bis dahin verdrängt worden waren. Die Bevölkerung meines Landes setzt sich wie die der meisten mitteleuropäischen Länder aus mehreren Nationalitäten zusammen. Obwohl viele von uns der Meinung waren, daß diese beiden Begriffe einander durchdringen sollten, wurde in der Emanzipationsbewegung, die eine staatliche Souveränität anstrebte, der Akzent eher auf den Begriff der Nationalität gelegt. Heute – wo wir über unsere Souveränität verfügen – hat der Begriff der Staatsbürgerschaft seine volle Bedeutung wiedererlangt, denn nur er erlaubt es, ein Zusammenleben verschiedener Nationalitäten innerhalb eines Landes zu gestalten. Hinzu kommt nun die Frage unseres Europäisch-Seins, unseres Zugehörigkeitsgefühls zu Europa. Die Vertiefung dieses Gefühls scheint mir wesentlich, um gewisse Spannungen abzubauen, die trotz allem durch die Koexistenz mehrerer Nationalitäten auf einem Territorium bestehenbleiben.

Richard von Weizsäcker: Wenn die Freiheit nicht mehr vom Totalitarismus bedroht ist, muß man sie meistern. Das ist die erste Aufgabe der Demokratie und es ist überhaupt nicht sicher, daß sie ihr immer gerecht werden wird. Ich hoffe deshalb sehr, daß die Menschen in den Ländern, in denen die Erinnerung an den Totalitarismus noch frisch ist, sich ein Gefühl für jene Werte erhalten, die man auch dann braucht, wenn die Freiheit gesiegt hat. Es sind jene Werte, die wir, die wir lange in einer freien und reichen Gesellschaft gelebt haben, in Gefahr sind, zu vergessen: der Gemeinsinn und die Bereitschaft zu teilen, die Solidarität. Ich glaube, daß die Länder Mitteleuropas hier gegenüber den westlichen Ländern, die zu sehr dem Hedonismus verfallen sind, eine wichtige Rolle spielen können.

Arpád Göncz: Gestehen wir es uns ein: Mitteleuropäer müssen wir erst noch werden. Europäer sind wir schon: durch die gemeinsame Kultur. Wir wollen die politische Integration in Europa. Das heißt, wir wollen in die Europäische Union eintreten. Was bedeutet das für ein postkommunistisches Land? Zunächst einmal haben wir gerade erst unsere Souveränität wiedergewonnen. Zwei der hier vertretenen Länder haben überhaupt zum ersten Mal eine nationale Unabhängigkeit errungen. Die Souveränität ist ein relativ geschlossenes System. Die postkommunistischen Länder wollen also in dem Moment, in dem sie sich abgrenzen, die Integration in einen größeren Zusammenhang, in dem sie wiederum einen Teil dieser Souveränität, dieser Abgrenzung, abgeben müssen. Denn nichts anderes ist die Europäische Union. Es gibt unterschiedliche Ebenen, die zu betrachten sind: Europa, die europäischen Regionen – wie Mitteleuropa –, die einzelnen Staaten und die Ethnien, aus denen sie sich zusammensetzen. Wenn wir uns Europa anschließen wollen, müssen wir den Pluralismus in all seinen Facetten akzeptieren. Unsere Souveränität wird dadurch vermindert, aber unsere Gesellschaft wird daraus Nutzen ziehen.

Jacques Rupnik: Wir erleben heute die Rückkehr Rußlands in den Balkan, aber auch in sein „nahes Ausland“. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung der russischen Politik und welche Folgen sehen Sie für Mitteleuropa?

Lech Walesa: Die Ereignisse in Ex-Jugoslawien müssen uns eine Warnung sein: Man denke nur an die Länder der ehemaligen Sowjetunion! Wenn wir in Mitteleuropa und in Europa insgesamt es nicht schaffen, uns zu verständigen, um diese Probleme auf die Tagesordnung zu setzen und unsere Werte zu verteidigen, wird Rußland darin eine Aufforderung sehen, zu seinen alten Gewohnheiten zurückzukehren. Natürlich müssen wir ein demokratisches Rußland, das die selben Werte anerkennt wie wir Europäer, unterstützen. Dieses Rußland brauchen wir. Aber ein Rußland, das uns Bedingungen setzt, das uns nicht als gleichberechtigten Partner ansieht ... Rußland versteht das Wort Partnerschaft nicht! Partner heißt nicht Gendarm!

Václav Havel: Ich denke, Rußland ist nach wie vor eine eurasische Großmacht und wird es noch lange bleiben. Eine Atommacht. Ohne eine Partnerschaft zwischen dem Westen und Rußland, wie auch immer sie gestaltet wird, kann ich mir keinen Frieden in Europa und der Welt vorstellen. Warum nicht die „Partnerschaft für den Frieden“? In den Staaten Mitteleuropas, die sich als gänzlich europäisch empfinden, ist die Situation ganz anders. Das sind kleine Staaten. Sie brauchen Garantien für ihre Sicherheit. Sie können nicht bloße Partner der Nato sein, sie müssen zu vollgültigen Mitgliedern werden. Wir betrachten die „Partnerschaft für den Frieden“ also als einen ersten Schritt in diese Richtung. Was nun die neuen Töne im russischen politischen Diskurs angeht, da sind wir hier natürlich sehr hellhörig und finden sie absolut verwerflich. Rußland kann nicht einerseits den Großmachtstatus und andererseits dieselben Rechte wie die kleinen Länder Mitteleuropas beanspruchen und sagen: Warum sollt ihr Mitglieder der Nato sein und wir nicht? Das ist absurd.

Richard von Weizsäcker: Die Frage der Sicherheit ist sehr wichtig. Ich möchte daran erinnern, daß sie eine der Dimensionen der Europäischen Union darstellt. Sie haben die „Partnerschaft für den Frieden“ angesprochen. Hierbei handelt es sich um eine Initiative der Nato, konsequenterweise schließt sie die USA mit ein. Dieses amerikanische Engagement in Europa ist in unser aller Interesse, weshalb gerade der Rahmen der Nato gewählt wurde und nicht der der Europäischen Union. Wir betrachten die „Partnerschaft für den Frieden“ als ersten Schritt in Richtung der von Ihnen gewünschten Integration in das Nato- Bündnis. Das ist die eine Seite des Problems, Rußland ist die zweite. Beide Aspekte müssen ernst genommen werden. Rußland ist eine Großmacht und es wird Großmacht bleiben. Seien wir Realisten und unternehmen wir nichts, was für dieses Land wie eine Provokation aussehen müßte. Aber Rußland sollte wissen, daß die Frage der Sicherheit in unseren Augen genau so wichtig ist wie die Frage der Souveränität. Das bringt mich nach Mitteleuropa zurück. Es kommt überhaupt nicht in Frage, daß diese Region noch einmal zum Einflußgebiet einer Großmacht wird, egal welcher. Hier sprechen wir alle mit einer Stimme. Wenn wir fest bleiben, wie kürzlich im ehemaligen Jugoslawien, erhält Rußland von uns das folgende Signal: Ja zur Zusammenarbeit, aber nein zu jedem Versuch, uns die Bedingungen dieser Zusammenarbeit zu diktieren.

Milan Kučan: Wir wollen mehr als Partnerschaft. Das ist wohl verständlich, wenn man sich an die Welt erinnert, in der unsere Länder leben mußten. Die Frage geht über das Problem der bloßen Sicherheit hinaus: Alle Mitgliedsstaaten müssen in der Tat ein fortgeschrittenes demokratisches System vorweisen. Dazu gehören insbesondere eine unpolitische Armee, transparente Verteidigungshaushalte und eine ausreichende gesellschaftliche Kontrolle über die Armee. Aber die Gefahr, daß sich die Armee in Dinge einmischt, die sie nichts angehen, besteht nach wie vor. Selbst in Slowenien ist die Situation nicht so einfach. Wir mußten im Moment unserer Unabhängigkeit Krieg führen. Es war ein kleiner Krieg, aber Krieg war es trotzdem. Und nun müssen wir im Interesse der entstehenden Demokratie eine ausreichende Kontrolle über die bewaffneten Kräfte gewährleisten.

Arpád Göncz: Die „Partnerschaft für den Frieden“ scheint mir absolut ungenügend. Aber es stellen sich nicht nur militärische Fragen. Es gibt auch die Menschenrechte, den Umweltschutz, die Kriminalität. Wir können die Sicherheit unserer Bürger nicht garantieren, wenn uns die wirtschaftliche Modernisierung mißlingt. Wir brauchen einen weiteren Begriff der Partnerschaft mit Europa. Solange uns die europäischen Märkte verschlossen bleiben, können wir unsere eigenen Märkte nicht entwickeln. Europa ist eine Wirtschaftsunion, aber für uns ist es ein verschlossener Markt.

Michal Kováč: Die Frage der Sicherheit Mitteleuropas läßt sich nicht allein vom Standpunkt der Länder dieser Region betrachten. Die Partnerschaft für den Frieden, der Wunsch dieser Länder, der Nato anzugehören, sind nicht alles. Eine enge Zusammenarbeit zwischen Westeuropa, der Nato und den Vereinigten Staaten mit Rußland ist ebenso vonnöten. Wenn man den Akzent auf eine der beiden Seiten dieser Frage legt, riskiert man schon eine Destabilisierung der Lage. Darum muß man die russische und die ukrainische Wirtschaftsentwicklung unterstützen – zur Stärkung der russischen Demokratie und damit die Ukraine ihre Unabhängigkeit behalten kann.

Thomas Klestil: Die Europäische Union wird ihre künftige Sicherheits- und Außenpolitik erst ab 1996 neu definieren. Nun wissen wir aber nicht, in welche Richtung sich die Ukraine, Weißrußland und Rußland entwickeln werden. Und da gibt es allein zwei Atommächte. Die wird man beim Nachdenken über die europäische Sicherheit kaum außer acht lassen können. Und da es um Sicherheit geht, kann man die Frage der Atomkraftwerke nicht ausklammern. Wir sollten uns das Fernziel eines Mitteleuropas als atomfreie Zone setzen. Und in der Zwischenzeit einen Katalog der dringendsten Sicherheitsmaßnahmen erstellen, die Atomkraftwerke einer internationalen Kontrolle unterwerfen, ein Alarmsystem mit Roten Telefonen einrichten usw. So würden das Vertrauen zwischen den Nachbarstaaten wiederhergestellt und die Ängste der Bürger beruhigt.

Jacques Rupnik: Für wie wahrscheinlich halten Sie die Erweiterung der Europäischen Union nach Osten? Kommt die Union ihren Erwartungen entgegen?

Lech Walesa: Wer in die Europäische Union eintritt, profitiert auch vom gemeinsamen Markt. Jeder will daraus einen möglichst großen Nutzen ziehen. Natürlich ist der westliche Steuerzahler nicht bereit, für jemand anderen zu bezahlen. Das Beispiel der deutschen Wiedervereinigung und ihrer Kosten ist abschreckend. Wir müssen die Unterschiede der wirtschaftlichen Entwicklung ins Auge fassen, aber wir müssen uns auch bewußt sein, daß der Weg zur wirtschaftlichen Einheit kein direkter sein wird. Denn das alles ist sehr teuer, und wir sind nicht vorbereitet.

Jacques Rupnik: Die deutsche Wiedervereinigung war eine Vorbedingung für die Europäische Union. Glauben Sie, Herr von Weizsäcker, daß die Integration Ostdeutschlands als eine Art Modell für die Integration der osteuropäischen Länder dienen kann?

Richard von Weizsäcker: Es wäre interessant, die unterschiedlichen Wege der ehemaligen RGW- Länder zur Marktwirtschaft zu vergleichen. Was Ostdeutschland angeht, so wurde es durch seine brachiale Einbeziehung ins Währungsgebiet des Westens einer unbarmherzigen Konkurrenz ausgesetzt. Dadurch wurden beträchtliche Probleme geschaffen. Nichts davon hat sich in den anderen Ländern des RGW abgespielt und ich bin deshalb nicht sicher, ob man aus der Erfahrung der deutschen Vereinigung Lehren ziehen kann. Wird die Zulassung neuer Mitglieder zur EU die europäische Integration befördern oder wird sie sich im Gegenteil als ein Faktor des Auseinanderfalls herausstellen? Es ist nicht leicht, diese Frage zu beantworten. Die Erfahrung hat uns gelehrt, daß die Integration, das heißt das Einverständnis eines Staates, zugunsten einer größeren Einheit auf einen Teil seiner Souveränität zu verzichten, niemals leichten Herzens gegeben wird. Es bedarf eines gewissen Zwangs. Und diesen Zwang hat bisher die Erweiterung Europas gewährleistet, mit der Folge von mehr Integration und mehr Vertiefung. Hoffen wir, daß in Zukunft die Bevölkerungen selbst diesen Erweiterungsprozeß tragen werden. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir unsere Institutionen reformieren.

Thomas Klestil: Der Abstand zwischen den reichsten und den ärmsten Ländern der Region wird noch lange für Spannungen sorgen. Sie müssen Geduld zeigen, so wie wir zur Solidarität aufgerufen sind.

Michal Kováč: Wir sind uns voll und ganz bewußt, daß die Aufnahme unserer Länder in die Union die europäischen Strukturen stärken und nicht schwächen soll. Die wirtschaftliche Integration wird nicht in zwei oder drei Jahren abgeschlossen sein. Es wird ein langer und komplizierter Prozeß, das wissen wir. Aber wir werden es nicht hinnehmen, während dieser Zeit in einem Vakuum der Politik und der Sicherheit festgehalten zu werden. Die Partnerschaft für den Frieden reicht nicht aus. Verbitterung und Enttäuschung der heute noch integrationswilligen Bürger unserer Länder wären die Folge.

Milan Kučan: Ich glaube, daß der Integrationsprozeß schrittweise verlaufen muß. Die Nicht- Aufnahme der mitteleuropäischen Länder wäre auch das Ende des Westens. Aber bis es zur Integration kommt, müssen wir wohl noch eine gewisse Teilung Europas in Kauf nehmen.

Aus dem Französischen von Thierry Chervel