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„Papa hielt mich fest, Mama war dabei“

Größte Prozeßserie um sexuellen Mißbrauch von Kindern im fränkischen Flachslanden / Im Dorf will niemand etwas gewußt haben  ■ Aus Flachslanden Bernd Siegler

Die Festvorbereitungen laufen auf Hochtouren. Die „Lustigen Zenntaler“ wollen aufspielen, und ein Volksmusik-Poet hat eigens den Vers gereimt „A Dorf wie diech, des findsd nid ofd“. In zwei Wochen ist es soweit. Die Marktgemeinde Flachslanden in Mittelfranken feiert ihr 700jähriges Bestehen.

Doch über dem Fest liegt ein Schatten. Als „Dorf der Schande“ ist die 2.500 Einwohner zählende Gemeinde bundesweit bekannt geworden. Flachslanden – der Name steht für „Kindersex-Skandal“, seit am 30. Juni letzten Jahres über hundert Polizeibeamte im Großeinsatz waren, um fünfzehn Männer und fünf Frauen festzunehmen. In den Ermittlungen stellte sich heraus, daß die Erwachsenen im Alter zwischen 23 und 79 Jahren neun Kinder über Jahre hinweg sexuell mißbraucht hatten.

„Wir müssen damit leben, aber es ist schlimm, wenn ein ganzes Dorf pauschal verunglimpft wird“, läßt Bürgermeister Erich Meißner das letzte Jahr Revue passieren. Der 62jährige pensionierte Förster freut sich über Zuschriften von langjährigen Urlaubsgästen, die ihm und der Gemeinde Mut zusprechen.

Solche Briefe trösten über anonyme Schreiben hinweg, die dem Christlich-Sozialen unterstellen, auch er hätte von den Vorfällen gewußt, aber geschwiegen. „Niemand hat hier etwas gewußt“, betont Meißner denn auch immer wieder. Die im Zentrum der Ermittlungen stehende Familie T. seien „Außenseiter“ gewesen. „Die entsprachen nicht dem Durchschnitt der Dorfbevölkerung.“

Zum Durchschnitt gehören, das heißt, sich im Wirtshaus sehen zu lassen. Das hat Rudi T., Vater von vier Töchtern zwischen dreizehn und sechs Jahren und einem Sohn (vier), schon getan – im Gasthof „Zum Wilden Mann“, wo die Halbe Bier noch 2,90 Mark kostet.

Am regen Vereinsleben des Dorfes nahmen der 55jährige und seine Ehefrau Angelika (34) jedoch nicht teil. Die Vernachlässigung ihrer Kinder, deren Unterernährung und Sprachdefizite, das wußte jeder. Schließlich liegt das heruntergekommene Haus mit der verrosteten Kinderschaukel im Garten nicht abseits des Dorfes. Aber den sexuellen Mißbrauch? „Das haben nicht einmal die direkten Nachbarn geahnt“, bekräftigt Meißner.

Er möchte endlich einmal positive Meldungen über Flachslanden in der Zeitung lesen. Von der gesunden Luft hier und dem „wunderbaren Zusammenhalt im Ort, wo alles zusammensteht wie ein Mann, wenn es gilt, ein Fest vorzubereiten“. Und natürlich von der „Oase unverfälschter Natur“, dem vier Kilometer entfernten Sonnensee.

Doch auch die „Oase“ ist einer der Tatorte. Am Campingplatz hatte die Familie T. zwei Wohnwagen stehen. Darin, in ihrer Wohnung und in einer Waldhütte sind die vier Töchter sowie Kinder von befreundeten Familien mehrfach vergewaltigt und zu anderen sexuellen Handlungen genötigt worden.

Die Camper wollen nichts gesehen haben. „Das muß außerhalb der Saison geschehen sein.“ Natürlich habe man sich über die „herumlungernden“ Kinder gewundert – aber so etwas?

So etwas? Nach dem Ermittlungsergebnis der Staatsanwaltschaft war sexueller Mißbrauch Alltag im Hause der Familie. So begann Sabines elfter Geburtstag (alle Namen wurden geändert) im Februar 1992 mit einer Vergewaltigung durch Heinz B., den Bruder ihrer Mutter Angelika.

Die kaufte derweil Kaffee und Kuchen für die Geburtstagsfeier. Als sie das Geschehen sah, forderte sie B. auf, sich „noch mal auf die Sabine draufzulegen“ – diesmal für die Videokamera. Nach dem Kaffeetrinken vergingen sich neun Erwachsene wechselweise an sieben Kindern.

Nach Sabines Aussage fing der Vater an, sie bereits im Kindergartenalter zu mißbrauchen. Nach und nach kamen die anderen Töchter an die Reihe, immer mehr Bekannte und Verwandte kamen dazu. Die Kinder haben sich gewehrt, mit Zwicken, Kratzen, Strampeln und Schreien. Dann wurden sie festgehalten und ihnen der Mund zugeklebt. „Papa hat mich festgehalten, Mama war dabei“, schildert die heute neunjährige Beate ihr Martyrium. Mutter Angelika beauftragte den 29jährigen Hans-Jürgen S., im Dorf nur „Bubi“ genannt, die sexuellen Perversionen auf Video zu filmen.

Die Videos wären die idealen Beweismittel – doch es gibt sie nicht mehr. Während die Polizeirazzia im Juli 1993 noch lief, kam die Meldung darüber bereits im Radio. „Bubi“ löschte alle bei ihm vorhandenen Kopien. „Der Videorecorder war beim Eintreffen der Beamten noch warm“, sagte Staatsanwalt Peter Hüttner.

Bislang wurden fünf Verfahren in der größten Prozeßserie um sexuellen Mißbrauch in der Geschichte der Bundesrepublik beendet. Sechs Männer sind zu Haftstrafen bis zu zehn Jahren verurteilt worden. „Bubi“, der Videofilmer, bekam neun Jahre.

Nahezu gleichgültig verfolgte der 29jährige Arbeiter den Prozeß vor dem Landgericht, das ihn wegen Vergewaltigung, sexuellen Mißbrauchs, Nötigung sowie wegen Verbreitens pornographischer Schriften verurteilte. Von Reue keine Spur. Bis zuletzt hat „Bubi“, der in seiner Kameratasche stets Kondome und Gleitcreme griffbereit hatte, nur das Filmen eingeräumt. „Was haben Sie sich dabei gedacht?“ fragt Richter Peter Heckel immer wieder den Angeklagten. Achselzucken. „Das hat sich alles so entwickelt“, erklärt schließlich mit leiser Stimme der stämmige Mann mit hängenden Schultern und fettigen Haaren. „Was?“ – „Na, ja, das eben.“ – „Was?“ – „Wie die Geburtstagsfeier vorbei war, waren die Kinder halt nackert.“ „Bubi“ mimt dabei den Mitläufer. Immer habe er „nur gemacht, was andere von mir wollten“.

Vergebens versucht Richter Heckel den Angeklagten zu einem Geständnis zu bewegen. „Einmal Bumsen mit Geständnis sind drei Jahre, ohne Geständnis fünf Jahre, so sind die Tarife hier.“ Doch S. gesteht nicht. Also müssen die betroffenen Kinder als Zeuginnen verhört werden – unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Die heute dreizehnjährige Sabine bestätigt dabei die Vorwürfe. „Bubi hat gefilmt und gefickt“, berichtet sie knapp und deutlich.

„Kinder können so komplizierte Zusammenhänge nicht erfinden“, durchkreuzt Richter Heckel die Strategie von S.' Verteidiger Günter Fackelmeier. Er ist davon überzeugt, daß das von einer Vielzahl von Männern mißbrauchte Mädchen seine Erlebnisse heute nicht mehr den richtigen Tätern zuordnen kann. Doch die Gutachterin Helga Poschenrieder findet keine Hinweise darauf, daß Sabine zu Übertreibungen neigt. Im Gegenteil. „Am liebsten wollte sie überhaupt nicht über die Vorgänge reden.“

Wenn „Bubi“ dem „halben Deppen“, den die Flachslander Dorfgemeinschaft bevorzugt für die sexuellen Perversionen verantwortlich macht, entspricht, hinterläßt der 36jährige Siegfried R. im Gerichtssaal einen ganz anderen Eindruck. Der kleingewachsene Mann mit der dicken Brille war nicht ständig arbeitslos, er hat sich „nur“ zweimal im Jahr einen Rausch angetrunken, er zeigt Interesse an Computern – er will noch etwas erreichen im Leben.

„Sie sind doch ein ganz normaler Mann“, meint Richter Heckel, „warum haben Sie das gemacht?“ Nach einer langen Pause und einem kurzen Grinsen über das anfängliche Kompliment aus dem Mund des Richters entfährt R. nur ein knappes „Ich weiß nicht“.

Neben mehrfacher Vergewaltigung wirft ihm die Staatsanwaltschaft vor, die Mutter samt den Töchtern „mindestens einmal nach Nürnberg gefahren zu haben, wo unbekannte Männer mit den Kindern den Geschlechtsverkehr gegen Entgelt vollzogen“. Das streitet R. jedoch vehement ab. „Zum Schutze der Kinder sind wir bereit, Geständnisse bis zur Schmerzgrenze zu akzeptieren“, betont Staatsanwalt Hüttner. Die strittigen Teile des Verfahrens werden daher vorläufig eingestellt.

Hier offenbart sich das ganze Dilemma solcher Strafverfahren. Die Gutachterin hatte zwar unmißverständlich erklärt, daß sich die Mädchen insbesondere von den „Erlebnissen mit R. stark beeindruckt“ zeigten. Als bei den Gesprächen die Rede auf die Fahrten nach Nürnberg kam, sei Sabine „grau im Gesicht“ geworden und habe fortan geschwiegen.

Solange aber die Opfer darüber nicht reden, kommen die Ermittlungen nicht voran. Richter Heckel verurteilt R. deshalb „nur“ wegen sexuellen Mißbrauchs zu viereinhalb Jahren. „In all diesen Verfahren sehen wir wahrscheinlich nur die Spitze des Eisbergs.“

Im Gerichtssaal wird es immer dann ganz ruhig, wenn die Therapeutin Irene Eisenbeis Auskunft über den Zustand der Kinder gibt. Die Kinder hätten „panische Angst vor menschlicher Nähe“. „Sie wirken wie ein Gerüst, das mühselig aufrechterhalten wird, aber beim kleinsten Anstoß sofort zusammenbricht.“ Jede neue Vernehmung vor Gericht verstärke die negativen Folgen des Mißbrauchs.

Laut wird es im Gerichtssaal meist erst bei Verkündung der Urteile. Die Prozeßbesucher wollen die Angeklagten am liebsten hängen sehen. Aus Flachslanden finden jedoch die wenigsten den Weg zum Ansbacher Landgericht. Im Dorf selbst hat sich das Klima gedreht. „Die sind doch eingesperrt, jetzt ist Ruhe“, heißt es auf dem Marktplatz. „Der Rudi ist schuld, der hat die Leute verdorben.“ Klar, Rudi T. ist ja ein „Zugereister“.

Eine breite Mehrheit äußert inzwischen Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Mädchen, vor allem nachdem sie auch den allseits anerkannten Dorfarzt beschuldigt haben. Der sitzt seit Ende März in Untersuchungshaft. „Das kann nicht sein, wir waren zusammen im Heimatverein und im Arbeitskreis Dorfentwicklung, das glaube ich einfach nicht“, betont auch Karin Bartelmeß. „Die Mädchen genießen halt jetzt ihre Macht, andere beschuldigen zu können“, übt sich selbst die Schulleiterin als Laienpsychologin.

Sie wüßte auch nicht, ob sie als Lehrerin angemessen reagieren würde. „Sexueller Mißbrauch, Drogen und Gewalt – da sind wir Lehrer hilflos.“ Bei einer Schulleiterkonferenz sei ihnen auch klargemacht worden, „in solchen Fällen möglichst wenig von sich aus zu unternehmen“.

„Herr, hilf, daß das Böse nicht verdrängt, sondern verarbeitet wird“, predigt Dorfpfarrer Burghard Knaut am Sonntag von der Kanzel. Der hagere, hochgewachsene Mann war es auch, der die Frauenbeauftragte des mittelfränkischen Polizeipräsidiums zu einem Vortrag nach Flachslanden eingeladen hat. Immerhin, vierzig Frauen und Männer sind kurz nach Pfingsten gekommen, um Hauptkommissarin Claudia Mehler zuzuhören. Sie berichtet, daß die Mißbrauchs-Täter „in aller Regel ganz normale Männer aus allen sozialen Schichten, eher unauffällig und angepaßt“ seien. „Flachslanden ist überall“, lautet ihr Resümee.

Weil Flachslanden überall ist, fordert der örtliche SPD-Landtagsabgeordnete und Kinderbeauftragte seiner Fraktion, Eberhard Irlinger, Konsequenzen aus dem „Fall Flachslanden“. Seiner Meinung nach sei „bei der Aufklärung des Mißbrauches einiges schiefgegangen“. In der Tat standen die Kinder der Familie T. bereits seit 1990 unter Beobachtung von Sozialarbeitern. Die mobile Erziehungshilfe hat bereits im September 1991 von dem Verdacht des Mißbrauchs gewußt und die Information an die betreffende Schule weitergeleitet.

Doch anstatt, wie in einem kultusministeriellen Erlaß eindeutig vorgeschrieben, „unverzüglich“ die Polizei zu verständigen, wurde erst im Juli 92 das Jugendamt informiert und im September das Mädchen in therapeutische Betreuung übergeben. Währenddessen erregte die Verhaltensauffälligkeit bei Beates Schwester Sabine ebenfalls Verdacht.

Doch statt dem nachzugehen, betrieb man deren Einweisung in eine Schule für geistig behinderte Kinder. Bis sich schließlich im Januar 1993 die damals achtjährige Beate offenbarte. Einen Tag später entschied das Vormundschaftsgericht, die vier Mädchen aus der Familie zu nehmen.

Heinz Kreiselmeyer, der Ansbacher Schulamtsdirektor, findet dieses Vorgehen korrekt: „Schnelle Anzeigen nach vager Andeutung sind der falsche Weg.“ Auch Rechtsanwältin Barbara Sieben, Nebenklägerin im Flachslanden-Verfahren, bescheinigt den Behörden, richtig gehandelt zu haben. Man müsse mit Anzeigen warten, bis „die Opfer so weit seien, ihre Beschuldigungen auch vor der Polizei oder dem Richter zu wiederholen“.

Aus ihrer langjährigen Erfahrung als Vorstandsfrau von „Wildwasser“ in Nürnberg beobachtet die Anwältin mit Schrecken, wie die Diskussion um den sexuellen Mißbrauch in eine Diskussion über den „Mißbrauch mit dem Mißbrauch“ umgekippt ist.

Die Mädchen würden immer öfter als unglaubwürdig hingestellt, die Täter fühlten sich ermutigt zu leugnen. Barbara Sieben glaubt nicht, daß im Dorf keiner etwas gewußt habe. „Die Angeklagten haben den Mißbrauch so selbstverständlich betrieben, ohne Schuldbewußtsein, warum sollen sie dann das nicht auch weitererzählt haben.“

Der Prozeß wird heute fortgesetzt.

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