Rußlands neue Stabilität

Entgegen allen Befürchtungen nach den Wahlen führt die Regierung Tschernomyrdin die Wirtschaftsreformen konsequent weiter  ■ Von Donata Riedel

Moskau/Berlin (taz) – Chaos, Katastrophe, Krise – noch immer fällt deutschen Kommentatoren zu Rußlands Wirtschaft nur das Schlimmste ein. Was soll man auch Gutes an einem Land entdecken, dessen Industrieproduktion im ersten Halbjahr 1994 um 26 Prozent eingebrochen ist, nach 19 Prozent im Jahr davor? In dem es sichtbare Altersarmut gibt? In dem die Preise fast so hoch sind wie in Westeuropa, der Durchschnittslohn aber nur 200 Mark im Monat beträgt?

Als nach den Dezember-Wahlen bis auf den Privatisierungsminister Anatolij Tschubais alle Radikalreformer die Regierung verließen, schienen sich die schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen: Der Reformprozeß würde auf halbem Weg beendet werden, das Land nicht mehr die alten, aber auch keine neuen Strukturen haben, und – so das worst-case-Szenario – seine Ablenkung in militärischen Abenteuern suchen.

Ein halbes Jahr später jedoch erfreut sich Premierminister Viktor Tschernomyrdin hoher Wertschätzung gerade unter westlichen Wirtschaftsexperten. Der frühere Direktor eines Energiekombinats ließ nicht, wie befürchtet, neues Geld für Subventionen an die Unternehmen drucken. Die Inflationsrate von monatlich acht Prozent ist die niedrigste seit dem Beginn der Wirtschaftsreformen im Januar 1992. Auf dem diesjährigen G-7-Gipfel in Neapel hat es Präsident Boris Jelzin nicht mehr nötig, nur auf die militärische Stärke seines Landes hinzuweisen.

Erstmals ist in Rußland ein ordentlicher Staatshaushalt vor Ablauf des Haushaltsjahres verabschiedet worden. Er weist zwar mit Ausgaben von 194 Billionen Rubel (162 Mrd. DM) und Einnahmen von 124 Billionen Rubel ein großes Defizit aus – aber den Extrawünschen diverser Lobbygruppen widerstand das Parlament; sogar die Militärs mußten sich mit 40,6 Billionen Rubel bescheiden, obwohl sie 55 Billionen gefordert hatten.

Der Deutsche Industrie- und Handelstag (DIHT) beurteilt inzwischen das Wirken der neuen Regierung deutlich positiver als das der Schocktherapeuten um den früheren Premier Jegor Gaidar: Diese hätten, reichlich schlicht, die Theorien der Chicagoer Monetaristen vom grünen Tisch aus einem Land aufgezwungen, das über keinerlei Markttraditionen verfügte.

Erstaunlich erfolgreich verlief die Privatisierung in Rußland. 70 Prozent der Groß- und Mittelbetriebe wechselten entweder in die Hände der Belegschaft oder – über die sogenannte Voucher-Privatisierung – in die des Volkes. 1993 hatte jeder Bürger, vom Baby bis zur Rentnerin, einen dieser Privatierungsschecks erhalten. Mit ihnen konnte man sich bis zum 1. Juli an den Privatisierungsauktionen beteiligen und Aktien erstehen. 40 Millionen der 150 Millionen Einwohner der Russischen Föderation sind heute Aktionäre.

Eine weitere Million Russen ließ sich inzwischen als Besitzer eines Geschäftes oder Cafés registrieren. Dabei ist ein Charakteristikum des neu entstandenen Handels- und Dienstleistungssektors, daß die Kleinbetriebe mehrheitlich nirgendwo registriert sind. Diese „wilden“ Unternehmer zahlen selbstverständlich auch keine Steuern. Der Dienstleistungssektor, vor drei Jahren praktisch nicht vorhanden, macht heute bereits 49 Prozent der Wirtschaftsleistung aus – so ungefähr jedenfalls. Denn die russischen Ministerien schätzen, daß sie 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ohnehin nicht in ihren Statistiken erfassen. So reflektieren die Zahlen des staatlichen Statistik-Komitees vor allem den Industriesektor (30 Prozent des BIP) und die Landwirtschaft (20 Prozent).

Die Industrie ist mit Beginn dieses Jahres an den schwierigsten Punkt im Transformationsprozeß gelangt. In sowjetischen Zeiten gewährte der Staat Betriebsmittelkredite und nahm die gesamte Produktion ab. Seit dem Beginn der Reformen zog sich der Staat aus der Warenverteilung zurück, mit der Folge, daß das System zusammenbrach. Die Betriebe müssen nun zusehen, an wen sie ihre Ware loswerden. Die meisten Unternehmen haben sich dabei in den letzten beiden Jahren heillos untereinander verschuldet: Ein Betrieb lieferte, der zweite zahlte nicht, darum zahlte der erste wiederum nicht für die Lieferung eines dritten etc. Viele Betriebe sind dazu übergegangen, nur gegen Vorkasse noch Aufträge anzunehmen. Diese Non-payment-Krise hat große Teile der Industrie lahmgelegt. Vergleichsweise die besten Chancen, aus dieser Krise wieder herauszukommen, räumen Experten der Konsumgüter-Industrie ein. Aktuell leiden diese allerdings unter der harten Importkonkurrenz. Um diesem Industriezweig durch die Umstellungskrise zu helfen, wird die Regierung wohl noch in diesem Sommer die Importzölle auf Nahrungsmittel, derzeit 12 bis 14 Prozent, deutlich anheben.

Am schwierigsten gestaltet sich die Umstellung auf die Marktwirtschaft für Unternehmen des militärisch-industriellen Komplexes. Schätzungsweise 30 Prozent der gesamten Industrieproduktion der Sowjetunion diente militärischen Zwecken – gegenüber vier bis fünf Prozent in den Industriestaaten. Und mit der Abrüstung meint es Boris Jelzin ernst. Die Militärausgaben sind nach Angaben des Vize-Ministerpräsidenten Oleg Soskowez in den vergangenen zwei Jahren um 70 Prozent gesunken. Entsprechend sahen sich die Unternehmen des Maschinen-, Flugzeug- und Schiffbaus sowie der Chemieindustrie häufig um den größten Teil ihrer Aufträge gebracht. Sie müssen nun neue Güter entwickeln, für die Waren neue Kunden finden, die dann auch noch bezahlen können. Erstaunlicherweise gibt es Unternehmen, denen dieses Kunststück gelingt.

Eine weitere Schwierigkeit für jeden Unternehmer ist das Fehlen eines funktionierenden Bankwesens. Kredite sind so teuer, daß sie sich kein Betrieb leisten kann. Und langfristige Darlehen für den Kauf von Maschinen gewährt wegen der Unwägbarkeiten der Inflation keine Bank. Die Verteilung der Produktionsmittel an das Volk durch die Voucher-Privatisierung brachte ebenfalls kein neues Kapital in die Unternehmen. Viele Manager hoffen darum auf einen westlichen Investor – oder darauf, daß einer der neureichen Russen einen Teil seines Vermögens in die Industrieproduktion steckt. Seit am 1. Juli die zweite Stufe der Privatisierung begann, ist es immerhin möglich, sich auch für Geld in eine Firma einzukaufen.

Die Non-payment-Krise ihres Betriebes bedeutet für die Beschäftigten ganz wörtlich, daß sie häufig nicht bezahlt werden. Da werden Löhne um Monate verspätet gezahlt, unentgeltliche Betriebsferien eingeschoben oder die Drei-Tage-Woche ohne Lohnausgleich eingeführt. Experten rechnen damit, daß diese Notlösungen im Herbst in Massenentlassungen umschlagen werden. Bis heute sind bereits vier Millionen Menschen arbeitslos geworden. Sie fängt bisher kein soziales Netz auf. Lediglich in einzelnen Regionen existieren Fonds, aus denen bedürftigen Menschen ein Mindesteinkommen gewährt wird. In der Moskauer Regierungszentrale jedoch ist das Problem unbekannt. Es gibt nicht einmal ein Ministerium, das für Soziales zuständig wäre.