Kinder sollen wieder hinter Schloß und Riegel

■ Mecklenburg will „schwererziehbare“ Kids einsperren / Merkel begeistert

Berlin (taz) – Die Debatte schien längst erledigt. Seit den siebziger Jahren verzichten fast alle Bundeländer auf Kasernierung von Jugendlichen. Geschlossene Heime, darin waren sich Pädagogen und Politiker einig, haben keinen erzieherischen Nutzen. Im Gegenteil. Wo Kids hinter dicken Mauern und schweren Stahltüren verschlossen werden, wächst der Drang zur Flucht. Sogar das Kinder- und Jugendhilfegesetz sieht eine geschlossene Unterbringung für sogenannte „schwererziehbare“ Kids nicht mehr vor, schließt diese Möglichkeit aber auch nicht ausdrücklich aus.

Diese Gesetzeslücke möchte Herbert Helmrich (CDU), Justizminister von Mecklenburg-Vorpommern, nutzen. Noch in diesem Sommer, so sein Plan, soll in Mecklenburg-Vorpommern eine neue Festung für Jugendliche fertig sein. Autoknacker, Einbrecher, Ladendiebe und andere „Schwererziehbare“ sollen eingewiesen werden können.

Hieß das Motto der Politiker, Pädagogen und Psychiater bislang „Helfen statt Strafe“, rüstet man im Osten der Republik jetzt zum Kampf gegen Jugendliche. Helmrichs Vorstoß gilt als böse Provokation. Und schon ist sie wieder da, die zu Ende geglaubte Debatte.

Für eine Internierung plädiert seit längerem auch CDU-Vordenker Wolfgang Schäuble. Den pädagogischen Rückwärtssalto sähe auch Angela Merkel gern. Seit längerem denkt die CDU-Bundesjugendministerin darüber nach, wieder geschlossene Heime einzurichten. Hauptklientel: Kinder, die noch nicht strafmündig sind, also jünger als 14 Jahre. „Gehören kriminelle und schwererziehbare Kinder hinter Gitter?“ fragte die Ministerin scheinheilig Anfang der Woche auf einer Expertentagung in Bonn. Das Zahlenmaterial, das sie lieferte, verneint die Frage. Verzeichnete die Statistik Ende 1992 exakt 134.333 Kinder und Jugendliche in staatlicher Obhut, bedurften doch nur 1.037 von ihnen einer „intensiven“ sozialpädagogischen Betreuung.

Hamburg hat 1985 alle geschlossenen Heime abgeschafft. Die Jugendbehörde der Hansestadt setzt auf das Konzept „Menschen statt Mauern“. Kriminelle Kids werden ambulant, meist in Jugend-WGs, betreut. Seit zwei Jahren verschickt das Jugendamt Kids aus der Autoknacker- und Straßenkinderszene in das finnische Jugenddorf Kuttula. Die liberalen Konzepte sind nicht unumstritten. Kritik hagelte es vor zwei Jahren, als ein 13jähriger Junge aus einer betreuten WG einen anderen im geklauten Auto in den Tod fuhr. In Kuttula, so war zu hören, herrsche die Rigidität einer Sekte. Auch wenn EU-Experten das Dorf inspizierten und nur Gutes zu berichten wußten, die CDU-Hardliner beißen sich fest. Selbst vor nationalistischen Tönen scheuen sie nicht nicht. „Wir wollen gar kein Jugenddorf im Ausland“, rief Justizminister Helmrich der Bonner Expertenrunde zu. „Wir wollen eine inländische Lösung.“ Sein Pilotprojekt in Mecklenburg-Vorpommern werde eine „moderne Einrichtung für zwei, drei Jugendgruppen“. Nur eben mit hohen, „fluchtsicheren“ Mauern drumherum.

Illusionist, wer glaubt, das Wegsperren löse bei jungen Menschen einen „heilsamen Schock“ aus. Erst kürzlich kam der Dresdener Sozialpädagoge Christian von Wolfferdorff in einer Untersuchung wieder einmal zu dem Ergebnis, daß der Freiheitsentzug „problematische Konsequenzen haben kann“. Wem die Flucht aus dem Kidknast nicht gelingt, sinnt häufig über Selbstmord nach.

Mit allen möglichen Mitteln habe sie versucht, sich das Leben zu nehmen. Sie schluckte Tabletten, ritzte sich die Pulsader auf, trank Putzmittel. Anizza, eine 18jährige Frau, berichtete bereits im April in der taz, wie sie dem Heim für „schwererziehbare“ Mädchen im oberbayerischen Gauting zu entkommen versuchte. Damals sei es ihr „echt egal“ gewesen, wäre sie dabei draufgegangen. Nur in ganz schwierigen, zudem seltenen Fällen, könne er sich eine kurzfristige geschlossene Unterbringung vorstellen, konstatierte auf der Bonner Tagung Helmut Remscheidt, Kinderpsychiater aus Marburg: „Eine Erziehung, die in Unfreiheit beginnt, muß in Freiheit fortgeführt werden.“

Eine Gesellschaft, in der zunehmend Menschen verarmen, habe kein Recht, problematische Kinder wegzusperren. Davon will Justizminister Helmrich nichts wissen. Dem Spiegel vertraute er an: „Je weiter die Erwachsenen ausweichen, desto weiter stoßen die Kinder vor. Irgendwo muß man die Grenzen ziehen.“ Annette Rogalla