Sehnsucht nach der Idylle

■ In keiner deutschen Stadt gibt es so viele „grüne Lungen“ wie in Berlin / Bausenator Nagel will diese innerstädtischen Flächen lieber für den Wohnungs- und Bürobau nutzen

Wenn Jordan G. seinen Blick mißmutig an den wolkigen Himmel heftet, geschieht dies nicht allein des Wetters wegen. Die Verstimmung rührt vielmehr daher, daß in Sichtweite seiner Kleingartenscholle das Hochhaus der Senatsbauverwaltung liegt. Und auf die ist der Laubenpieper gar nicht gut zu sprechen, seit Bausenator Wolfgang Nagel unisono mit freien Bauträgern sich für die Umwandlung innerstädtischer Kleingartenparzellen in Potentiale für Wohnungs- und Bürobau ausgesprochen hat.

Es sei ein „Unding“, hatte Nagel getönt, daß auf hervorragenden innerstädtischen Flächen wie etwa in Wilmersdorf und Charlottenburg der Wohnungsbau „blockiert“ werde. In der Nutzung von Flächen müsse nach dem Fall der Mauer ein Paradigmenwechsel stattfinden. Statt weiter auf die Erholungsgebiete innerhalb der Stadt zu setzen, die in der eingemauerten Stadt Ersatz für das abgeschnittene Umland darstellten, müsse nach 1989 die Entwicklung an den Rand gelenkt werden.

Auch der Beschluß des Senats, im Flächennutzungsplan (FNP) 85 Prozent der bestehenden rund 84.000 Kleingartenanlagen im Stadtgebiet (36.000 im Ostteil und 48.000 im Westteil der Stadt) zu erhalten, kann Jordan G. nicht beruhigen. Manchem seiner Kleingarten-Freunde gehe es jetzt schon „an den Kragen“: Erst im Mai walzten Bulldozer Parzellen der „Neuen Heimat“ in Tegel platt.

Doch der Sehnsucht nach der grünen Idylle jenseits der steinernen Schlagschatten, die sich in jenen poetischen Namen kleinkrämerischer Inseln widerspiegelt, darf die Mehrheit der Berliner Laupenpieper erst einmal weiter nachgehen. Der FNP sichert auf 3.600 Hektar Land den Gartenfreunden 82.600 Parzellen. Zwar sollen den 916 Kolonien mit Parzellengrößen zwischen 150 und 400 Quadratmetern cirka 12.000 Gärten abgeschnitten werden. Aber der neue Plan sieht Ausgleichsflächen und Ersatzschollen durch Parzellenteilungen vor. Zusätzlich wird den Laubenfans eine mehrjährige Schonfrist eingeräumt. Die kleinen Gärten, ihre stramme preußische Ordnung aus Reih und Glied sowie deren gezirkelter Bürstengrasschnitt sind Bestandteile der typischen Berliner Stadtgeschichte: in all ihrer Muffigkeit und ihrem Charme. In keiner deutschen Stadt gibt es soviele „grüne Lungen“ wie in Berlin. Sie sind die Fluchtpunkte der Mietskasernenstadt. Dennoch verdanken die Berliner Schrebergärten ihren Namen zum Teil dem Leipziger Arzt Moritz Schreber, der Mitte des 19. Jahrhunderts sich mit kleinen grünen Flächen in der Stadt der Volkshygiene und dem Jugendsport annahm. In Berlin entwickelten sich die Parzellen auch aus den sogenannten „Armengärten“ – kleine Flecken am Quartiersrand für Kartoffeläcker und Obstbäume. Die miserablen Wohnverhältnisse des steinernen Berlin schufen ab 1850 großflächige Kolonien. Ab 1862 wurden auch Kleingärten mit Schuppen verpachtet. Die sozialen und wirtschaftlichen Funktionen der Lauben wurden in der Weimarer Zeit auf eine gesetzliche Grundlage gestellt. Pacht und Erwerb wurden geregelt. Die Idee der Selbstversorgung in den grünen Refugien gab den Schrebergärten eine eigene gesellschaftliche Legitimation.

Bedeutung erhielten die Kleingärtner noch einmal nach dem Zweiten Weltkrieg, als ihre Bretterbuden Ersatzwohnstätten wurden. Im Ostteil Berlins wuchs in den achtziger Jahren gar die Datschenzahl aufgrund staatlicher Förderung. Aus den Arbeitergärten sind heute Mittelstandsgärten geworden, durch die zu gehen nicht jedermanns Sache ist. Hinter Grün verschanzt liegen Bellos und mentaler Mißmut auf der Lauer, wenn Störungen auftreten. Deshalb macht es Sinn, neben dem Erhalt der grünen Lungen auch ihre Rolle in der Stadt zu hinterfragen. Im Hause des Stadtentwicklungssenators etwa denkt man darüber nach, die Grünflächen und Parks mit den Kleingärten zu städtischen Landschaftszonen zusammenzuführen. Außerdem sollen die abgeschlossenen Kolonien der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Ob dann Apfelbäume zu schwer bewachten Bastionen umgerüstet werden? Ein Luftgewehr besitzt Jordan G. jetzt schon. Rolf Lautenschläger