Die Inseln für verhinderte Aussteiger

Auf den irischen Aran-Inseln kann man die gälische Sprache noch unter Schulkindern hören  ■ Von Franz Schiffer

Es ist wie ein Rausch ohne Guinness: Immer weiter zieht es uns in dieses Labyrinth hinein. Noch eine Viertelstunde, und die Orangensonne wird vollends in den Atlantik gleiten. Der Rückweg? Ohnehin Glückssache, denn in diese grau-grüne Wildnis haben uns keine Schilder oder Markierungen geführt – bloß Neugier auf eine verrückte Steinlandschaft am nordwestlichen Rand von Europa. Und jetzt staksen wir immer schweigsamer über hartes Kalkgestein, klettern über Bruchsteinmauern oder Eisengatter, die nur selten ihren Zweck erfüllen: Hier und da steht tatsächlich ein Schaf in einem der zahllosen, trocken ummauerten Vierecke. Lebende Denkmäler inmitten von Felsgarten-Puzzles.

Aber so verlassen sind die irischen Aran-Inseln doch nicht. Plötzlich tritt ein freundliches altes Paar um eine verwitterte Ecke. Aus der Grafschaft Cork und auch noch nie auf Aran gewesen. „Incredible here, isn't it?“ Ein vager Fingerzeig auf die Häuser am Strand löst allmählich den Bann. Wir finden heraus aus dem Gewirr der rauhen Brocken.

Lange Verirrungen gehören dazu in diesem Refugium für vieles, was das alte Irland ausmacht. Auf den drei Inseln vor der breiten Bucht von Galway – Inishmore, Inishmaan und Insheere – kann man die gälische Sprache noch unter Schulkindern hören. Oder vor einer hölzernen Imbißbude stehen und rätseln, was wohl „ispini tae“ bedeutet – „sandwiches“ würde es auf englisch heißen. Auch die Härten des Alltags bleiben nicht verborgen. Am Quai von Inishmore, dem größten Eiland, schauen die Tagelöhner meist reihenweise zu, wenn ein Bauer wieder eine schlachtreife Kuh aufs Schiff treibt. Die schmalen Straßen ausbessern, auf den wenigen Baustellen mit anpacken oder Touristen auf Pferdewagen durch die karge Inselwelt zuckeln – neben dem bescheidenen Fischfang sind das die wenigen Möglichkeiten für einen kleinen Verdienst. Nicht selten in den letzten Jahren waren bis zu 80 Prozent der Insulaner arbeitslos.

Knapp 1.500 Menschen leben jetzt hier, betreut von drei Priestern, einer Ärztin, zwei Friseusen, sechs Pub-Wirten und einem Zahnarzt, der gelegentlich aus Galway herüberkommt. Doppelt so viele Bewohner waren es noch um 1840. Bis in unser Jahrhundert hinein haben die Leute von Aran Hunger, Fieber und Vertreibung durch die Agenten englischer Landbesitzer ertragen. Mit bloßen Händen haben ihre Vorfahren dem steinigen Terrain Gärten und winzige Kartoffeläcker abgetrotzt, indem sie vom Ufer her Sand und Seetang die Hänge hochschleppten und in die Felsritzen stopften. Eine dünne Humusschicht entstand, auf der vereinzelt Thymian und Brombeeren, Enzian und Fuchsien gedeihen und nahrhaftes Gras für stämmige Kühe wächst. Getrockneter Dung dient hier und da immer noch als Heizstoff in den Haushalten.

Ist der Ursprung dieser mühsamen Landnahme noch begreifbar – die ersten Siedler konnten hier vor viertausend Jahren leichter Fuß fassen als im sumpfigen, waldreichen Binnenland –, so weiß bisher niemand den Ort zu deuten, den Einheimische schlicht „the Dun“ nennen. Dun Aengus auf Inishmore ist das mächtigste irische Steinfort, vor über zweitausend Jahren am äußersten Vorsprung einer dramatischen Steilküste erbaut, jetzt eine atemraubende Ruine. Wie Hufeisen umschließen drei Wälle den inneren Festungsring. Auf weiten Terrassen, ansteigenden Podien für nichts als Gras und Gestein, geht es hinaus zum obersten Plateau: Wir blicken in die Tiefe. Laut und schäumend entladen die Wellen alle Kraft, die sie beim Rennen über den Atlantik gesammelt haben.

Warum ein nach vorne offenes Fort? Warum überhaupt eine Zitadelle an einem so unzugänglichen Platz hoch über der See? Am Ende wollten die Kelten hier gar nichts verteidigen, sondern nur verehren – die Sturmgewalt vielleicht. Oder den blanken Fels, der auf Aran geboren sein mag.

Immer wieder schwebt etwas Unversöhnliches über Aran, und immer wieder werden wir überrascht. Kaum haben wir eine steinige Sackgasse verlassen, schon öffnet sich ein Dschungel aus lauter Farn. Ein grün das dem Auge gut tut. Ein Steinwurf weiter der unvermutete Ausblick auf weißen Sand und grünblaues Wasser. Gegen ein hier geplanten Hotelhochhaus und einen Golfplatz haben sich die Bewohner bisher erfolgreich gewehrt. Die größte kommerzielle Touristenattraktion ist ein versteckt liegendes Dokumentationszentrum, das die Geschichte der Inseln kurzweilig aufbereitet präsentiert.

Wer sich für Aran interessiert, hat oft etwas von einem verhinderten Aussteiger. Gut, im Sommer kann es vorkommen, daß sich 1.500 Tagesausflügler in Kilronan, dem Hauptdorf von Inishmore, drängeln. Besucher, die länger bleiben, sind ein Schlag für sich. Wir treffen eine junge deutsche Richterin, die nichts mehr fürchtet, als daß daheim irgendwann Motten aus ihren Akten flattern. Und Dave, den Dubliner, der seine Zeit auf Aran mit drei Worten begründet: „Come and think“. Schließlich Janine, eine zarte alte Dame aus Paris. Deren feste Überzeugung es ist, daß der Eiffelturm ihre schöne Stadt verschandelt.

Hinweise: Auf Schnellbooten kommt man in 90 Minuten von Galway nach Inishmore, 20 Minuten dauert es weiter westlich von Rossaveal aus. Noch schneller sind die Fähren zwischen Doolin und Inishere, Tägliche Flüge von Carnmore Airport, zwölf Kilometer östlich von Galway, zu jeder der drei Aran-Inseln. Unterkunft bieten zwei kleine Hotels auf Inishmore und eine größere Anzahl von „Bed and Breakfasts“ auf allen drei Inseln.