Ich bin der Quäler und die Qual

Von Schmerzen, die Sinn machen, und solchen, die ihn zerstören. Ein Rundgang durch die „Geschichte des Schmerzes“ mit dem amerikanischen Literaturwissenschaftler David B. Morris  ■ Von Sebastian Weber

Wieder einmal angekommen im Haus des Schmerzes, stellt sich heraus, daß hier diesmal eine Art Ausstellung läuft. Die Atmosphäre ist dementsprechend neutral. David B. Morris, ein amerikanischer Literaturwissenschaftler, hat das Bild- und Textmaterial ausgewählt und kommentiert es. Wie ein Arzt bei der Visite scheint ihm viel daran zu liegen, vertrauenerweckend und zuverlässig zu wirken. Leidenschaftlich ist sein Verhältnis zum Schmerz jedenfalls nicht, oder aber er verbirgt es geschickt.

Zunächst wird man davor gewarnt, sich in den verworrenen Nervensträngen zu verfangen. Sie befördern die Schmerzimpulse vom verletzten Gewebe zum Gehirn. Der Gegenvorschlag: Dringen wir nicht zu tief ein in den Körper und schauen lieber auf die Berichte und Bilder, die den Schmerz an die Oberfläche bringen. Ein rein physiologisches Verständnis greift ohnehin zu kurz, betont Morris.

Gegen viele Arten von Schmerzen hilft Medizin, gegen andere soll sie helfen, schafft es aber nicht. Spätestens da, wo die Macht der Medizin aussetzt, muß den Schmerzen mit anderen Mitteln wenigstens ein Sinn abgerungen werden. Mit amerikanischer Unverdrossenheit richtet sich der Blick in die Zukunft: „Die Frage nach dem Sinn ist jedoch nicht den Schriftstellern vorbehalten. Ärzte und Patienten, Werbefachleute und Fabrikanten, Sportler und Tänzer, Theologen, Hausfrauen und Philosophen werden in der Entwicklung eines neuen Bewußtseins vom Schmerz eine bedeutende Rolle spielen.“ Da klingt die Stimme des zerrissenen Baudelaire wie aus einer anderen Welt: „Ich bin die Wunde, bin der Stahl, / Ich bin der Streich und bin die Wange, / Ich bin das Glied und bin die Zange / Und bin der Quäler und die Qual!“

In Morris' Kultur des Schmerzes herrscht eben die Frage vor, wie Schmerz verstanden und gelindert werden kann. Der Blick des Täters wird dabei ausgeblendet, Folterknechte und andere Quälgeister, die gezielt Schmerz zufügen und ihren Nutzen daraus ziehen, werden ins Abseits geschoben. Das ändert nichts daran, daß Schmerzen Ursachen haben, gegen die man vorgehen sollte.

Aber nicht immer stehen Täter dahinter und Waffen dagegen. Zum Raum des Schmerzes gehören bewegliche Zonen, in denen klare Fronten fehlen, fest umrissene Gestalten nicht zu erkennen sind. Gegenden, in denen der Schmerz unfaßbar und ungewollt bleibt, den Körper malträtierend, ohne sich in ein klares organisches Schema einzufügen.

Morris hält sich an die Kulturgeschichte, um zu zeigen, wie erstaunlich viele Bedeutungen Schmerz annehmen kann. Seien es nun die Qualen tragischer Helden oder christlicher Märtyrer, Phantomscherzen nach Gliederamputationen oder selbst die schönen oder erhabenen Schmerzen der Empfindsamkeit, nie bleibt der Körper verschont.

Doch über Sinn und Wert dieser Schmerzen teilen die betroffenen Leiber kaum etwas mit, andernfalls wäre wahrscheinlich das Thema auch gar nicht zu ertragen.

Ob Schmerzen als Strafe, göttliche Prüfung, individueller Härtetest, körperliches Warnsignal, Prozedur zur Schaffung eines Gedächtnisses, grausames Fest, als Mittel der Befreiung vom Körper und der Erhebung in einen anderen Zustand angesehen werden, hängt immer ab von dem, was eine Gesellschaft mit menschlichen Körpern vorhat.

Weil diese Feststellung nun so richtig wie nichtssagend ist, kommt es darauf an, Begriffe wie Kultur oder Gesellschaft auf Widersprüche und Lücken zu durchleuchten, also den Eindruck zu zerstören, es handle sich um homogene Gebilde. Morris gelingt das ohne großen theoretischen Aufwand; einfach indem er seinen Blick sowohl auf die Kontraste als auch auf Unschärfen und Übergänge zwischen den Phänomenen einstellt. Etwa wenn es um die verwirrende Symptomatologie der Hysterie geht.

Am Beispiel einer der großen Krankheiten des bürgerlichen Zeitalters wird gezeigt, wie Familien- und Klassenverhältnisse, Mythen über weibliche Unberechenbarkeit und mangelndes Verständnis der Medizin für Schmerzen, die keine offenkundige organische Quelle haben, zusammenwirkten, um Hysterikerinnen nachzusagen, ihre Schmerzen seien eingebildet oder vorgetäuscht. Auch durch diese Verdächtigungen wird der Krankheit ein Sinn gegeben, allerdings einer, der die Schmerzen eher noch verschlimmert. Weil so etwas häufiger vorkommt, erscheint Morris' Überzeugung von der Macht des Sinns – „im guten wie im bösen“ – gelinde gesagt zweideutig. Und sie bleibt es auch, wenn klärend hinzugefügt wird, daß im Mittelpunkt stehen sollte, wie die Betroffenen ihren Schmerz artikulieren und bewerten: Sinn in Eigenproduktion. Vor Verblödung hat das leider noch nie geschützt. Doch schenken wir uns den Zynismus, schließlich geht es um Körper mit Schmerzen. Die sind unter diesen Umständen vielleicht doch nicht für jeden Sinn zu haben, der auf sie einredet. Wer leidet, dem mag es helfen, darin einen höheren Zweck oder – zeitgemäßer – eine Chance und Herausforderung zu sehen; doch zu echtem Schmerz gehört eben auch die trostlose Erfahrung, daß diese Hilfen versagen.

Virulent wird dieses Scheitern bei Schmerzen, die auftauchen und nicht wieder verschwinden. „Manchmal, beispielsweise bei nichtoperablen Tumoren oder Degenerationserscheinungen wie rheumatischer Arthritis, ist die Ursache zwar bekannt, aber eine Heilung unmöglich. Manchmal bleibt der Schmerz lange nach der Genesung oder kehrt, wie es bei der Migräne der Fall ist, in häufigen Abständen wieder.“

Diese chronischen Schmerzen, die Morris auf dem Vormarsch sieht, bilden den dunklen Hintergrund seiner Darstellung. Sie konfrontieren mit der Ausweglosigkeit reinen, sinnlosen Leidens, denn ihnen fehlt gewöhnlich alles, was Schmerz zu einer erhebenden oder erregenden Erfahrung machen kann. Ganz pragmatisch plädiert Morris hier für den Einsatz von Narkotika.

Irgendwo, in ungreifbarer Nachbarschaft zu den Gegenden des sinnlosen und sinnerfüllten Schmerzes, erstreckt sich ein Niemandsland des Körpers. Leben scheint es auch dort zu geben. Denn die „Geschichte des Schmerzes“ hat zwar ihre Helden, diejenigen, die ihren Schmerz neu oder anders zu sehen und zu leben vermochten.

Aber Morris erinnert auch an einen Menschen, der den Virtuosen des Schmerzes nahe- und zugleich unendlich fernsteht: einen Mann nahmens Edward H. Gibson, der seit seiner Kindheit frei von Schmerzen lebte. In den zwanziger Jahren trat er als das menschliche Nadelkissen in Varietés auf, ließ sich Nadeln tief in den Körper bohren, gab den Schmerzforschern Rätsel auf und kam schließlich auf die Idee, die Kreuzigung nachzustellen. Als aber der erste Nagel durch die Handfläche ins Kreuz geschlagen wurde, fiel eine Frau aus dem Publikum in Ohnmacht, und die Vorstellung wurde abgebrochen.

David B. Morris: „Geschichte des Schmerzes“. Aus dem Amerikanischen von Ursula Gräfe. Insel Verlag, 400 Seiten, geb., 48 DM