■ Bücher.klein
: C'est complet!

Kämpften die Geschichtswerkstätten der siebziger Jahre noch gegen den Mythos der schweigenden Lämmer, als die die Juden in ihre Vernichtung gegangen seien, so muß man sich heute schon eher gegen das wehren, was dabei herausgekommen ist: der zum Teil ungewollte Eindruck nämlich, für die Verfolgten habe es doch eine Option gegeben, und sei es nur die des Hasardeurs.

„L'Affiche Rouge – Immigranten und Juden in der französischen Résistance“ umschifft beide Klippen und landet bei der einzig richtigen Beschreibung dieser vermeintlichen Optionen als choiceless choices. Das „Affiche Rouge“ war ein Plakat, mit dem die Vichy-Regierung die französische Résistance als Infiltrat heimtückischer Ausländer „im Solde Moskaus und Londons“ denunzieren wollte. Das Buch erzählt in einer von Pathos im wesentlichen freien Prosa, wie die MOI entstand, die Main-d'Oeuvre Immigrée, deren harter Kern den Deutschen speziell im Jahr 1943 zum Teil so großen Schaden zufügte, daß sie eine aufwendige Spezialeinheit auf sie ansetzten.

Die Organisation war Teil der KPF, zu der sie Zeit ihres Lebens ein so kompliziertes Verhältnis hatte, daß man über Jahre vermutete, es seien die französischen Kommunisten selbst gewesen, die sie der Gestapo auslieferten.

Entstanden aus den Mützen- und Hutmachergewerkschaften des 19. Jahrhunderts, waren ihre wichtigsten Mitglieder auch militärisch geschulte Kader im Spanischen Bürgerkrieg. Sie waren polnische Juden, Italiener, Serben, Tschechen; aber sie waren nicht unbedingt Internationalisten – und genau das machte sie für die KPF so unzuverlässig. Als die KPF fremdenfeindlichen Tendenzen ihrer französischen Anhänger nicht energisch genug entgegentrat („C'est complet“, das Boot ist voll, hieß ein Flugblatt) und den Hitler- Stalin-Pakt aus vollem Hals begrüßte, rückten vor allem Polen und Italiener von ihr ab. Fast mit Erleichterung, so heißt es, hätten sie auf den deutschen Einmarsch 1941 reagiert, der die Verhältnisse zumindest irgendwie wieder „klärte“. Ohne Verankerung auf dem Land mußte ihre Taktik die der Stadtguerilla sein: Bombenanschläge, Zugentgleisungen, schwarze Radioprogramme, Wurfsendungen. Die Lebensläufe waren abenteuerlich: österreichische Krankenschwestern, die versuchten, Besatzer auf ihre Seite zu ziehen; „Albert le vieux“, 1889 in Charkow geboren, antizaristischer Anarchist, Lumpensammler in Frankreich, wurde 1943 verhaftet, simulierte Wahnsinn, kam nach Saint-Anne. Wer von ihnen unter der Folter reden würde und wer nicht, dafür sucht die mit einem kleinen Agentennetz versehene Erzählung zum Glück keine Erklärung. Daß man sie nur nicht vergißt, ist ihr einziges Anliegen. mn

Stéphane Courtois u.a.: „L'Affiche Rouge“. Verlag Schwarze Risse, Berlin 1994, 387 S., 28 DM