Keine slawische Wiedervereinigung

Am Sonntag wird in Weißrußland und der Ukraine bei Stichwahlen der neue Präsident bestimmt / Dabei fällt auch ein Entscheidung über die zukünftige Orientierung dieser Nachfolgestaaten der Sowjetunion  ■ Von Sabine Herre

Würde es in den Staaten des ehemaligen Ostblocks „Worte des Jahres“ geben, so wären in den vergangenen Jahren wohl stets die Begriffe „Nation“ und „Transformation“ gewählt worden. Müßte dagegen der Westen ein Wort für Osteuropa bestimmen, so würde dieses mit Sicherheit „Nationalismus“ lauten. Die unterschiedliche Wahrnehmung verweist auf ein Problem westlicher Analyse. Da wir es uns spätestens seit den Revolutionen des Jahres 1989 angewöhnt haben, die Frage nach den Ursachen osteuropäischer Kriege und Konflikte mit dem besagten Schlagwort zu beantworten, traten ökonomische Ursachen in den Hintergrund. Tatsächlich aber war der Prozeß der Formierung der Nationalstaaten nicht nur aufs engste mit wirtschaftlichen Interessen verbunden, sondern wurde in vielen Fällen von ihnen bestimmt.

Das westliche Bild vom Wesen der osteuropäischen Konflikte prägten die Volksfronten der Litauer, Esten und Letten. Die eindeutig nationale Zielsetzung dieser Bewegungen erklärte sich aus ihrem eindeutigen Ziel: die Staaten dieser Nationen mußten nicht erfunden werden, angeknüpft werden sollte an die Tradition vor 1940, die fünfzigjährige „Zwischenzeit“ galt es möglichst schnell zu vergessen. In ihrer Sicherheit gestärkt wurden die Balten aber zudem durch die feste Überzeugung, daß ihren unabhängigen Staaten die ökonomische Transformation ohne die anderen sowjetischen Republiken leichter und schneller gelingen werde.

Eine ähnliche, wenngleich in diesem Fall falsche Annahme, bestimmte auch den Prozeß der Teilung der ČSFR. Die Slowaken wollten sich von der „tausendjährigen Fremdherrschaft“ befreien, weil ihre Politiker ihnen weismachten, daß sich so auch die ökonomischen Probleme des Landes leichter lösen würden. Als bereits im ersten Jahr der Teilung diese Hoffnung enttäuscht wurde, wären viele Slowaken nur zu gern zum gemeinsamen Staat zurückgekehrt.

Wie sehr – oft völlig unrealistische – ökonomische Zielvorstellungen die Unabhängigkeitsbewegungen beeinflußten, macht jedoch das Beispiel der Ukraine deutlich. Als im August 1991, nach dem Moskauer Putsch, immer deutlicher wurde, daß die UdSSR das Jahr nicht überleben wird, wollte der zukünftig zweitgrößte Staat Europas nicht als letzter das sinkende Schiff verlassen. Das alte Zentrum galt als Verlierer, die neuen Staaten als Gewinner des Umbruchs. Gleich nach dem Baltikum wurden der Ukraine die besten Entwicklungschancen eingeräumt. Im Dezember 1991 stimmten über 90 Prozent der Bevölkerung des Landes – und damit auch die Mehrheit der RussInnen – für seine Unabhängigkeit. Zweieinhalb Jahre nach dieser Entscheidung wissen beide Bevölkerungsgruppen, daß sie sich getäuscht haben. Nicht Moskau, sondern Kiew, Sewastopol und Lviv sind die Verlierer. Im Vergleich zu den Wirtschaftsdaten der Ukraine sind die Rußlands geradezu positiv.

Ähnlich ist die Situation in Weißrußland. Weniger der Sieg des Populisten Lukaschenko als vielmehr die Niederlage des ersten Staatschefs der unabhängigen Republik, Stanislaw Schuschkjewitsch, macht deutlich, wie groß die Bereitschaft zu einer Anbindung an Rußland ist. Nach der italienischen Einigung 1860 wurde die Losung „Italien ist geschaffen, jetzt gilt es Italiener zu schaffen“ geprägt. Schuschkjewitsch ist es nicht gelungen, seine Mitbürger zu Weißrussen zu machen. Man wollte die eigenen Angelegenheiten eigenständig lösen, daß dies mit der Bildung einer Staatsgrenze zu Rußland verbunden war, überrascht viele noch heute.

Steht also die Wiedererrichtung der UdSSR auf anderem Niveau bevor? Liest man westliche Analysen, so scheint es daran kaum einen Zweifel zu geben, als Ursache allen Übels wird jedoch Rußland ausgemacht, das beständig daran arbeite, sein „nahes Ausland“ wieder unter Kontrolle zu bekommen. Doch Kontrolle heißt nicht Anschluß, und auch in Moskau wird – Ausnahmen bestätigen die Regel – vor allem ökonomisch gedacht. Zumal dann, wenn eine weitere Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation nicht nur die Position der Regierung, sondern auch die Machtbasis der hinter ihr stehenden Interessengruppen schmälern könnte. Bereits heute kann Moskau die Löhne der russischen Bergarbeiter nicht mehr zahlen, warum also sollte es Interesse an ukrainischen Kohlebergwerken haben, zumal diese eigentlich so schnell wie möglich stillgelegt werden müßten. Bereits heute gibt es zu viele „billige“ Arbeitskräfte, den russischen Arbeitern dürfte kaum an weiteren Zuwanderern aus der Ukraine gelegen sein. Und warum sollte Rußland seine internationalen Beziehungen wegen eines Streits um die ökonomisch weitgehend unbedeutende Krim belasten?

Andererseits ist auch nach einem Wahlsieg der moskaufreundlichen Kandidaten in Weißrußland und der Ukraine noch keine endgültige Entscheidung über die Orientierung der beiden slawischen Nachbarn Rußlands gefallen. Denn erneut beeinflußen nicht politische Statements, sondern handfeste ökonomische Interessen die Kooperation mit Moskau. Wenn die alte Zentrale heute ihre Bedingungen für die Währungsunion mit Weißrußland in die Höhe schraubt, kann Minsk schon morgen davon Abstand nehmen. Einen Anschluß Weißrußlands an Rußland wird es schon darum nicht geben, weil die alt-neue Elite kaum bereit sein dürfte, ihre Macht wieder an Moskau abzutreten. Komplizierter ist die Situation in der Ukraine. Dort hat schon die erste Runde der Präsidentenwahlen die Annahme von einer ethnischen, aber eben auch ökonomischen Ost-West-Spaltung bestätigt. Demnach scheint, sollte sich die wirtschaftliche Lage nicht verbessern, eine Teilung des Landes zwangsläufig. Genauere Analysen haben jedoch gezeigt, daß die russische Bevölkerung für die ökonomischen Probleme zwar die Regierung in Kiew verantwortlich macht, nicht aber deshalb, weil diese Regierung von Ukrainern gestellt wird. Und: Der „ukrainische Nationalist“ Krawtschuk hat in den russischen Teilen des Landes besser abgeschnitten als sein „russenfreundlicher“ Gegenspieler Kutschma in den ukrainischen.

„Ein schlechter Friede ist besser als ein guter Krieg“, mit diesen Worten reagiert die Bevölkerung beider Nationen heute auf die Frage nach den Möglichkeiten der Bewältigung der ökonomischen Probleme. Schon heute hat die Ukraine die meisten Wirtschaftsabkommen der GUS unterzeichnet, die ökonomischen Beziehungen zu Moskau sind weit weniger gestört als angenommen. Um den regionalen Unterschieden besser gerecht werden zu können, wird in der Kiewer Verfassungskommission inzwischen über eine Föderalisierung des Landes nachgedacht. Der Vorschlag, russisch zur zweiten Staatssprache zu machen, liegt auf dem Tisch. Wird es dem neu-alten Präsidenten Krawtschuk gelingen, die Interessen der verschiedenen Gruppen auf diese Weise auszubalancieren, hat die Ukraine eine gute Überlebenschance.