Contergan-Skandal ohne Ende

Der Wirkstoff Thalidomid ist wieder auf dem Vormarsch / Neue Generation von „Contergan-Kindern“ wächst in Brasilien heran / Pharmafirma gibt Restbestände des Mittels kostenlos ab  ■ Von Volker Schäfers

Als harmloses Schlaf- und Beruhigungsmittel wurde Thalidomid unter dem Markennamen Contergan Ende der fünfziger Jahre vermarktet. Zunächst in Deutschland, später weltweit. Insbesondere schwangeren Frauen wurde Linderung bei morgendlicher Übelkeit versprochen. Die fatale Wirkung des Medikaments erschreckte mit der Geburt der ersten sogenannten „Contergan-Kinder“ 1958 die Öffentlichkeit. Eine einzige Tablette während der ersten drei Schwangerschaftsmonate bedeutete die fast sichere Behinderung der Neugeborenen: verstümmelte Gliedmaßen, Schäden an Ohren und Augen, Fehlbildungen innerer Organe und in einigen Fällen sogar Gehirnschäden. Bis zum weltweiten Verbot von Contergan 1962 wurden mehr als 12.000 dieser Kinder in 48 Ländern geboren. Vierzig Jahre nachdem Contergan im Chemielabor der Stolberger Pharmafirma Grünenthal entwickelt wurde, sind jetzt in Brasilien erneut Contergan-Fälle bekannt geworden.

Unter dem Namen Talidomida vertreibt das brasilianische Gesundheitsministerium das Medikament zur Behandlung von Lepra. Acht Millionen Tabletten wurden im vergangenen Jahr allein in Brasilien hergestellt. In dem Land mit der zweithöchsten Lepra-Infektionsrate der Welt — Schätzungen liegen zwischen 300.000 und 1 Million Betroffene — reicht diese Menge zur Behandlung von etwa 20.000 PatientInnen aus. Die Verteilung des Medikaments unterliegt aber aufgrund der ungeheuren Nebenwirkungen strengen Auflagen. So versichert es jedenfalls Gerson Pena vom brasilianischen Gesundheitsministerium. Den Ärzten, so sagt er, sei es grundsätzlich verboten, weibliche Patienten mit Thalidomid zu behandeln. Daß die Praxis hingegen anders aussieht, beweist das Schicksal der heute 33jährigen Dulcineia Roque de Lima.

Sie ist nur eines von inzwischen über 45 neuen Thalidomid-Opfern, die seit Februar 1993 in Brasilien entdeckt wurden. Im Oktober 1982 bekam Dulcineia Roque de Lima, die in der grauen Vorstadtzone von Rio de Janeiro lebt, täglich 20 Milligramm Thalidomid verschrieben. Drei Monate später erfuhr sie, daß sie schwanger war. Die Ärzte erwähnten mit keinem Wort die Risiken, die von der Thalidomid-Behandlung ausgehen. Im Sommer 1983 kam Dulcineias Tochter Michele schwer behindert zur Welt, mit stark deformierten Beinen, die später über den Knien amputiert werden mußten, mit einer Lippenscharte, Feinstellungen der Finger und Veränderungen in den Gehörgängen.

Seit ihrem dritten Lebensjahr bekommt Michele von der staatlichen Krankenversicherung INPS zwar einfache Prothesen, eine staatliche Behindertenrente erhält sie jedoch — wie die meisten der neuen Thalidomid-Opfer — nicht. Damit wird die gesetzliche Regelung, nach der jedem Thalidomid- Opfer in Brasilien je nach Behinderungsgrad bis zu sechs Mindestlöhne Rente zustehen würden, kurzerhand außer Kraft gesetzt.

Noch heute werden Frauen vielerorts unzureichend oder gar nicht über die Risiken von Thalidomid aufgeklärt. Lepra-PatientInnen erhalten beispielsweise Streifen mit je zehn Tabletten ohne Beipackzettel oder einen sonstigen Hinweis auf die Gefahren. Einziger Packungsaufdruck ist der Wirkstoffname. So kommt es häufig zur unkontrollierten Weitergabe der Tabletten, an der auch die Apotheken beteiligt sind. Obwohl Thalidomid rezeptpflichtig ist, ist es in den Apotheken praktisch frei erhältlich.

Das brasilianische Gesundheitsministerium ignorierte Berichte von kritischen Ärzten über Fehlbildungen bei Neugeborenen, die auf Thalidomid zurückzuführen sind. Fazit: In Brasilien gibt es bisher keine offiziell anerkannten Thalidomid-Opfer unter den Geburtsjahrgängen nach 1961.

Auch die Weltgesundheitsorganistion (WHO) mußte erst durch die Recherchen eines englischen Fernsehteams auf die katastrophalen Zustände aufmerksam gemacht werden. Bis dahin lagen der Organisation keine Informationen vor, nach denen bei der Behandlung von Lepra mit Thalidomid irgendwelche Probleme aufgetaucht wären.

Dabei war es die WHO selbst, die in Zusammenarbeit mit dem einstigen Patenthalter Grünenthal den Contergan-Wirkstoff weltweit für die Leprabehandlung zugänglich machte. Während Brasilien sich 1977 für die Eigenproduktion von Thalidomid entschied, beziehen derzeit 38 Länder das Medikament kostenlos aus Restbeständen der Firma Grünenthal.

Die Lieferungen erfolgen „aus humanitären Gründen“, wie es heißt, und stets auf Anfrage von Ärzten aus den jeweiligen Ländern, versichert ein Sprecher des Konzerns. Die WHO verlange Abkommen mit den Gesundheitsministerien der belieferten Länder, die die Sicherheitsbestimmungen bei der Ausgabe des Medikaments regeln. Und auch Grünenthal überzeuge sich beispielsweise davon, daß die Beipackzettel in der jeweils richtigen Landessprache formuliert sind.

Zur Zeit verfügt Grünenthal noch über Restbestände des Wirkstoffes von etwa zwei Tonnen. Diese Menge reiche aus, um jährlich zwischen 400.000 und 500.000 Tabletten des Fertigarzneimittels herzustellen und auszuliefern. Nach Auslieferung der Altsubstanzen in einigen Jahren sei das Thema Contergan für die Firma Grünenthal erledigt. Eine erneute Produktion werde es nicht geben, heißt es aus dem Firmensitz in Stolberg bei Aachen. In der Bundesrepublik ist nach Angaben des Institutes für Arzneimittel ohnehin nicht mehr mit einer Zulassung eines Medikamentes mit dem Contergan-Wirkstoff zu rechnen.

Dennoch scheint sich die Anwendung gerade dieses Wirkstoffes auf weitere Gebiete auszudehnen. In den USA wird der Einsatz bei Tuberkulose-PatientInnen geprüft und in Großbritannien wird es unter der Abkürzung CG 217 zur Behandlung des sogenannten „Beshey-Syndroms“, das Magengeschwüre verursacht, eingesetzt.

Auch in Deutschland zeichnet sich die stille Rückkehr des Contergan-Wirkstoffes ab. Im Rahmen von Therapieversuchen wird an verschiedenen Kliniken quer durch die Bundesrepublik die Wirksamkeit von Thalidomid bei einer ganzen Reihe von neuen Indikationen geprüft. Dazu zählen schwere Haut- und Immunerkrankungen, Abwehrreaktionen speziell bei Knochenmarktransplantationen und auch Nebenwirkungen, wie beispielsweise enormer Gewichtsverlust, bei Aids-Kranken.