■ Carlos Fuentes, mexikanischer Schriftsteller, antwortet Subcomandante Marcos, Führer der Indianer von Chiapas
: „Ich stehe in Eurer Schuld“

Die Friedensverhandlungen zwischen den aufständischen Indianern in Chiapas und der mexikanischen Regierung sind im vergangenen Monat abgebrochen worden. Am 10. Juni lehnte die zapatistische Guerilla EZLN ein Regierungsangebot ab und forderte ihrerseits den Rücktritt von Präsident Carlos Salinas de Gortari und die Bildung einer Übergangsregierung. Der Regierungsunterhändler Manuel Camacho Solis gab eine Woche später sein Mandat zurück und begründete dies mit Differenzen zum Präsidentschaftskandidaten der Regierungspartei PRI, Ernesto Zedillo. In einem Brief, den die taz am Samstag dokumentierte, fordert Subcomandante Marcos, Führer der EZLN-Guerilla, den mexikanischen Schriftsteller Carlos Furentes zur Teilnahme an einer „Nationalen Demokratischen Konvention“ auf, die am 23. und 24 Juli, einen Monat vor den Präsidentschaftswahlen am 21. August, auf von den Zapatisten kontrolliertem Territorium stattfinden soll. Im folgenden die leicht gekürzte Antwort von Fuentes an Marcos.

„An Subcomandante Marcos,

in den Bergen von Chiapas

Lieber Freund,

Ihr Brief zwingt mich zu verschiedenen Überlegungen. Da ist als erstes die Debatte über das Alte und das Neue, Tradition und Modernität, auf die Sie sich gleich zu Beginn beziehen.

Zunächst mal stehe ich in Eurer Schuld, weil Ihr uns wieder dazu gebracht habt, darüber nachzudenken, was wir unter Modernität verstehen. Eine exklusive Modernität, die all diejenigen am Wegesrand stehenläßt, die nicht in der Lage sind, auf den Zug des Fortschritts aufzuspringen? Aber was ist das für ein Fortschritt, der nicht die Mehrheit der Bürger eines Landes vorwärtsbringt? Und was ist das für ein Fortschritt, der sich nicht aus den Traditionen nährt? Kann es eine lebendige Zukunft geben mit einer toten Vergangenheit? Oder müssen wir umdenken, in Richtung einer einschließenden Modernität, die jeden möglichen Beitrag für eine wirkliche Zukunft aufnimmt, also eine Zukunft, die die Vergangenheit und die Erinnerung in sich trägt?

Der Aufstand in Chiapas hat in vielen Sektoren Mexikos die wüstesten Reaktionen provoziert. Ich habe Leute gehört, die sagten: die Indios sind ein Hemmnis für den Fortschritt und für die Modernität [...]. Ihr habt uns nun daran erinnert, daß unsere Modernität auch Euch einschließt [...]. Wir müssen die Kulturen respektieren, die auch zu uns gehören. Denn sie leben mit uns und vermitteln uns Werte, die vielleicht sogar wertvoller, ganz sicher aber notwendig sind, um unsere dürftige Vorstellung von Modernität und Fortschritt zu bereichern.

[...] Die eingeborenen Kulturen Mexikos messen der rituellen und mythischen Welt einen besonderen Wert zu, wie auch dem Tod, der Sorge um die Natur, dem Gemeinschaftssinn und der Fähigkeit zur Selbstregierung; alles Dinge, die unsere halbfertige Modernität vielleicht gut gebrauchen könnte [...].

Ihr habt mir vor Augen geführt, daß es in Chiapas zwei Wirklichkeiten gibt, die auch für das ganze Land gelten. Da gibt es einmal die historische Gemeinde, gedemütigt seit 500 Jahren, zu der die Conquista für immer vorgedrungen ist und die dagegen von der Revolution nur gestreift wurde. Dieses Chiapas der jahrhundertealten Ausbeutung und des Elends hat nun gesprochen.

Aber es hat auch ein Chiapas der Zukunft gesprochen, mit einer außergewöhnlichen Intuition: ein Chiapas, das Teil der drängendsten Probleme des sogenannten global village ist. Ihr habt wohl gemerkt, daß Ihr schon sehr bald, in einem Prozeß der weltweiten Integration – der ohne mit der Wimper zu zucken Millionen von Arbeitern im Namen der Effizienz, der Produktivität und des Nutzens für einige wenige opfert –, daß Ihr Ausgebeuteten von Chiapas bald schon schlimmer als ausgebeutet dastehen könntet: marginalisiert, vergessen, Eurem Glück überlassen [...]. Die Ausbeutung schafft ja wenigstens noch einen Lohn. Die Marginalisierung schafft nur Verlassenheit und Tod.

Irgend jemand mußte die Stimme erheben, die Petitionen vortragen, die ältesten mit den modernen Forderungen verbinden. Das Land, aber auch der Kredit, die Technologie, die Schule, der Transport, der Zugang zu Märkten und vor allem die Gerechtigkeit, also das Ende dieses entmutigenden Empfindens, daß in Mexiko die Gerechtigkeit kein Dach über dem Kopf hat.

All diese Forderungen wären noch vor ein paar Jahren vom heißen Eisen des Antikommunismus gebrandmarkt worden. Ihr seid die ersten Akteure des Postkommunismus in der Dritten Welt. Eure Ansprüche können nicht mehr als Teil einer weltweiten sowjetischen Verschwörung versteckt oder pervertiert dargestellt werden. Nur die Schiffbrüchigen des Kalten Krieges, die jetzt ohne Erzfeinde geblieben sind, können das denken. Jetzt muß man den sozialen Problemen ohne ideologische Ausreden entgegentreten [...]. Salinas de Gortari gibt zu, daß es die Mexikaner sind, die für die Probleme Mexikos verantwortlich sind. Und anstatt zu vernichten, bietet er den Dialog an. Erkennt doch wenigstens dieses an und gebt endlich diese absurde Forderung auf, daß Salinas zurücktreten soll. Ein Bruch mit den verfassungsrechtlichen Zeiten nützt doch niemandem, außer den Dinosauriern in der PRI.

Außerdem: Ihr habt uns allen in Mexiko gesagt, daß die Forderungen Eurer Gemeinden nur auf demokratischem Weg erfüllt werden könnten. Die Demokratie ist vor allem lokal. Ihr habt das Recht, Eure compañeros auszuwählen, Eure Freunde, all die Menschen, die Eures Vertrauens würdig sind. Es ist nicht einzusehen, warum Ihr die Demütigung erleiden solltet, daß Euch das autoritäre Zentrum Gouverneure aufzwingt, deren Mission es ist, Eure Ausbeuter in Chiapas zu unterstützen.

Wegen all dem stehen wir bei Euch in der Schuld. Und da ist noch was: Ihr habt uns an all das erinnert, was wir vergessen hatten. Denn wir hatten sogar uns selbst vergessen.

Ob Ihr deswegen zu den Waffen greifen mußtet? Ich werde immer darauf bestehen, daß die Antwort Nein lauten muß. Ich werde immer darauf bestehen, daß man die Wege des Rechts bis zum letzten nutzen muß. Und wenn sie erschöpft sind, dann muß man neue politische Wege suchen. Die Politik und das Recht sind unerschöpflich, wenn sie mit Phantasie betrieben werden. Ich denke, ein Beispiel seht Ihr in dem exzellenten Auftreten von Manuel Camacho Solis als Friedensbeauftragter in Chiapas. Seiner Mission den Erfolg absprechen hieße jeglicher Politik den Erfolg absprechen und auf gefährliche Weise der traditionellen offiziellen Politik das Feld bereiten, nämlich der Repression.

Euch blieb keine andere Wahl als die der Waffen? Ich werde immer darauf bestehen, daß Ihr sie doch hattet. Aber ich bin kein indianischer Bauer aus Chiapas. Vielleicht habe ich nicht die geistige Fähigkeit oder die nötigen Erfahrungen, um mich wirklich in Eure Haut hineinzuversetzen und zu fühlen, was Ihr fühlt. Ich bin dafür, daß unser Land Wege findet, um die Gewalt auszusperren und um eine Aktion, wie Ihr sie am ersten Januar begonnen habt, unnötig zu machen.

Es ist jetzt müßig zu diskutieren, ob Ihr einen anderen Weg hättet wählen können. Das wäre, als wollte man diskutieren, ob es gestern nacht hätte regnen sollen oder ob heute morgen die Sonne aufgegangen ist. Wichtig ist nun, Señor Subcomandante, jetzt die Kräfte zu vereinigen, damit der Weg, den Ihr gewählt habt, sich nicht wiederholen muß. Aber das bedeutet, wie wir alle inzwischen wissen, eine gegenseitige politische Verantwortung: Demokratie in Chiapas, damit es Demokratie in Mexiko geben kann, und Demokratie in Mexiko, damit es Demokratie in Chiapas geben kann.

Sie müssen mich gar nicht davon überzeugen: es geht darum, die Kräfte zu bündeln, um das Ziel einer demokratischen und glaubwürdigen Wahl am 21. August zu erreichen, damit es am 22. August kein gewaltsames Nachspiel gibt. Und Sie sprechen ja von einer Bürgerkonvention mit demokratischen Zielen und davon, die Bemühungen der Zivilgesellschaft zu bündeln. Señor Subcomandante, Sie haben heute eine Gelegenheit, die bei weitem die sehr freundliche Einladung zum Dialog übersteigt, die Sie mir in Ihrem Brief aussprechen. Ich gehöre einer Gruppe von bekannten Mexikanern und Mexikanerinnen – mit und ohne Parteibuch – an, die sich vorgenommen haben, der Gefahr von gewaltsamen Zusammenstößen entgegenzutreten, mittels der rigorosen Anwendung von Geist und Gesetz der Demokratie.

Ich schlage Ihnen also höflichst vor, daß Sie auch andere Mitglieder unseres Grupo Plural einladen, die – da bin ich mir sicher – mit Ihnen und den Ihrigen, den Bauern und Indianern von Chiapas, neue Formen des politischen Umgangs finden werden: Verständnis und Übereinstimmung, machbare Demokratie, ein Fortschritt der Mehrheiten und eine einschließende Modernität.

Es grüßt Sie herzlich Ihr Freund Carlos Fuentes

Übersetzung: Anne Huffschmid