Vorgeschmack auf den Regierungssitz

Die Sicherheitsvorkehrungen für den Clinton-Besuch zeigen, was auf die Berliner bei Staatsbesuchen zukommt / Beispiel Rom: Gelassenheit im Umgang mit Regierungsfunktionen  ■ Max Welch Guerra

Die ausgiebigen Sicherheitsmaßnahmen für den Besuch von US-Präsident Clinton sind ein Vorgeschmack auf das, worauf sich die Bevölkerung der Hauptstadt bei Staatsbesuchen künftig gefaßt machen soll. Viel stärker wird der Alltag in Berlin jedoch von den Sicherheitsmaßnahmen für die einzelnen Regierungsstellen bestimmt werden. Und hier steckt noch viel Konfliktstoff. So soll zum Beispiel die Brüderstraße auf der Spreeinsel wieder entstehen, aber dafür soll das Staatsratsgebäude abgerissen werden und die Straße selbst für die Normalbevölerung gesperrt sein. Zu den Schreckgespenstern der Bonner Politiker gehört die Unübersichtlichkeit des Straßenlebens im Umfeld ihrer Bauten und erst recht die Aufnahme von Geschäften und Eßlokalen im Erdgeschoß ihrer Ministerien. Solche Bedrohungen haben sie sich für die Hauptstadt Berlin ausdrücklich verbeten.

Anders dagegen in der Hauptstadt der Italienischen Republik. Dort ist im Regierungsviertel die Unübersichtlichkeit, vor der die Bonner Politiker sich so fürchten, zu Hause. In unmittelbarer Nähe von Regierungsbauten im historischen Zentrum wimmelt es von allerlei Snackbars, kleinen Geschäften und Werkstätten. Selbst im Erdgeschoß einiger Verwaltungen gibt es „Fremdnutzungen“. Diese Nutzungsmischung dürfte einer der wichtigsten Gründe dafür sein, daß die Hauptstadtfunktionen in Rom verhältnismäßig gut in das historische Zentrum der Stadt integriert sind.

Eine Besonderheit der Sicherheitsmaßnahmen vor Regierungsgebäuden in Rom ist, daß die Absperrungen räumlich flexibel sind. Keine Straße ist gänzlich für die Bevölkerung gesperrt, sensible Bereiche sind an einem Tag mit Absperrgittern versehen, am nächsten Tag mit Pflanzen- und Blumenkübeln „geschmückt“. Noch eine halbe Minute bevor Berlusconi im Mai von seiner Amtseinführung kommend zum ersten Mal als Ministerpräsident seinen Amtssitz Palazzo Chigi betrat, fuhren vor dem Eingang des Palazzo unzählige Taxen und Vespas vorbei. Das zuschauende Volk wurde zwar von zivilen und uniformierten Polizisten über Videokameras beobachtet, weggescheucht wurde jedoch niemand.

Die Präsenz der Sicherheitsleute ist bei alledem nicht zu unterschätzen. Als wir gerade am Palazzo Chigi und am Palazzo Montecitoria, dem Sitz des Parlaments, überprüfen wollten, inwieweit die Sicherheitsmaßnahmen die Benutzbarkeit der Stadt beeinträchtigen, hielt man uns für verdächtig, und wir wurden für sechs Stunden festgenommen.

Eine der aus deutscher Sicht bemerkenswerten Charakteristika der italienischen Hauptstadt ist der Umgang mit Zeugnissen vergangener Herrschaftssysteme. Obwohl das nachfolgende System sich jedes Mal aufs neue ideologisch aus der Überwindung des alten definierte, hat es kaum politische Bilderstürmerei gegeben. An die überkommenen Bauten und auch an die überkommenen Nutzungen wurde immer wieder angeknüpft, um eigene Muster für die Verrräumlichung der Hauptstadt zu realisieren.

Schon die Installierung der Hauptstadt 1870/71, Ergebnis und Symbol des Sieges des bürgerlich- monarchischen Einheitsstaates über den Kirchenstaat, führte zur Übernahme wichtiger Bauten und Symbole des päpstlichen Roms; der Palazzo Quirinale, bis dahin Sommerresidenz des Papstes, wurde zum Sitz des Königs und Ausgangspunkt für die Via XX. Settembre, die emblematische Ministerienachse des neuen Staates. Am Quirinal wurden die Inschriften und Symbole zum Ruhme der Päpste nicht beseitigt, sondern erhalten und gepflegt. Der Palazzo Quirinale ist heute noch der Sitz des Staatsoberhauptes.

Bekannt ist, daß der italienische Faschismus ein ausgeprägtes eigenes städtebauliches Programm hatte. Dennoch wurde ein päpstlicher Palazzo aus dem 15. Jahrhundert, der Palazzo di Venezia, Hauptsitz des Duce und des Großen Faschistischen Rates.

Der Antifaschismus hat das Selbstverständnis der italienischen Nachkriegsrepublik sehr stark geprägt, die Orte des faschistischen Städtebaus galten jedoch nicht als belastet. Mussolini wurde vom Volk erschlagen, aber die meisten gebauten Zeugnisse seiner Herrschaft stehen heute noch und werden benutzt. Das Viertel EUR, das die Faschisten als Geländer für eine Weltausstellung geplant und mit einprägsamen Bauten schon teilweise bebaut hatten, wurde in den 60er und 70er Jahren zu einem zweiten Ansiedlungsschwerpunkt für Ministerien. Im Palazzo di Venezia ist heute u.a. die oberste Behörde für römische Geschichts- und Kunstgüter untergebracht.

Der behutsame Umgang mit den architektonischen und städtebaulichen Zeugnissen der jeweils besiegten Herrschaftssysteme in Italien erweckt nicht den Eindruck der politischen Naivität oder Ahnungslosigkeit, sondern eher den einer auf solider Stadtkultur und politischem Selbstbewußtsein gründenden Souveränität.

Der Autor ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Stadt- und Regionalplanung der TU Berlin. Um die Berliner Hauptstadtdebatte auszuweiten, hat eine Gruppe von Planern die Stadt Rom untersucht.