Auferstandene Ruinen

In Dortmund und Hamburg wird die alte Sehnsucht nach Ruinen ausgestellt  ■ Von Christoph Danelzik

Trotz versunkener Kulturen und den Träumen von der Urgeschichte – vermutlich ist die Ruinenfaszination gar nicht so alt wie die Menschheit. Troja scheint wenigstens zehnmal neu errichtet worden zu sein, bevor in Rom dann mit dem Ende der antiken Kultur der Platzbedarf schwand. Zuerst fielen die Einfachhäuser der Millionenstadt, dann wurden Tempel abgerissen. Das Forum Romanum verkam zum „Campo Vaccino“, der städtischen Kuhweide; wer im Mittelalter unter seinen imperialen Triumphbögen hergehen wollte, mußte den Kopf einziehen, weil der Schutt der Jahrhunderte das Straßenniveau um mehrere Meter angehoben hatte. Auf älteren Ansichten des Forums hat es den Anschein, als seien die kolossalen Bögen in den Boden gesunken.

In keiner Stadt häufen sich seither die Ruinen derartig wie in Rom. Als erste bemerkten die RömerInnen selbst, in welch reizvollem Ambiente sie lebten, es war im 12. Jahrhundert. Fortan maßen sie die Bedeutung ihrer Stadt an der Größe der antiken Vergangenheit. Drei Jahrhunderte vergingen allerdings, ehe Anspruch und Wirklichkeit sich erkennbar annäherten. Selbst Francesco Petrarca, der sich 1347 auf dem Kapitol in antiker Manier zum Dichter krönen ließ, mußte seine Einbildungskraft strapazieren, um das alte Rom in seiner Vorstellung der gegenwärtigen Tristesse abzutrotzen.

Bis ins 19. Jahrhundert wetteiferte das römische Volk in zwei Gruppen um die Ausbeutung ihres antiken Erbes. Gelehrte versuchten, die Zeugnisse der glorreichen Vergangenheit zu sammeln und mit ihnen die welke Größe der Stadt zu erneuern; Handwerker benutzten die antiken Ruinen als Steinbruch, um den kostbaren, aber unverkäuflichen Marmor zu schnödem aber wertvollem Kalk zu verbrennen.

Die Wertschätzung antiker Ruinen allerdings wuchs mit der Renaissance. Leon Alberti und andere Architekten studierten an ihnen die vergangenen Leistungen der Baukunst und versuchten, sie wiederzubeleben. Sie trachteten danach, die fragmentierte Architektur in idealer Weise zu rekonstruieren. Dann festigte sich im 16. Jahrhundert die Hinneigung zum Ruinösen allerorten. Es mußte nicht mehr komplettiert werden, um für schön zu gelten. Künstler wie Marten van Heemskerck zeichneten Ruinen ab; in manieristischen Parks wurden sogar Ruinenbauten neu errichtet. Die Ruine war in der Ikonographie endgültig etabliert.

Gleich zwei Ausstellungen nähern sich derzeit den römischen Ruinen. Während in der Hamburger Kunsthalle die frappierende Kunst Giovanni Battista Piranesis (1720–1778) untersucht wird, analysiert das Museum für Kunst und Kulturgeschichte in Dortmund den Blick einer Epoche zurück auf das große Vorbild Rom. Hier liegt der Schwerpunkt auf der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Auch in Dortmund ist Piranesis Werk von Gewicht, ja es wird gerade im Vergleich mit seinen ZeitgenossInnen der Grund seiner Faszination spürbar.

Piranesi war Architekt ohne Fortune, seine erste Chance als Baumeister erhielt er aufgrund des Erfolges seiner Vedutenzyklen. Nachdem er bei einem Architekten und danach beim Perspektivlehrer, Bühnenarchitekten und Radierer Carlo Zucchi gelernt hatte, begleitete er 1740 eine venezianische Gesandtschaft nach Rom, wo ihn die künstlerische Obsession ergriff. Seit 1743 veröffentlichte er opulente Bände großformatiger Radierungen, vornehmlich mit römischen Landschaften. Von Giovanni Baptista Tiepolo beeinflußt, entwickelte Piranesi eine Manier, die ihn weit wegführte vom pingeligen Abkupfern von Bauten und Stadtansichten. Bei aller Detailtreue – Piranesi legte Wert auf archäologische Genauigkeit – verbreiten die Bilder eine drückende und morbide Stimmung, ohne daß der Künstler dramatisierende Elemente einsetzt; kein Gewitter, keine tragische Szene. Aber die Zeichnung der Oberflächen mit vibrierenden Strichen genügt bereits, um für Atmosphäre zu sorgen.

Von seinen Veduten ausgehend schuf Piranesi zwischen 1749 und 1761 seine berühmten Architekturphantasien der Carceri. In ihnen erfindet Piranesi groteske Kerkerfluchten, deren Aufbau nur vordergründig rational wirkt. Gigantische Dimensionen lassen die anwesenden Figuren verkümmern, Pfeiler und Brücken ragen ins Nichts oder stehen sich im Weg, selten findet der Blick den Weg ins Freie. Mit diesen Radierungen repräsentiert Piranesi ebenso wie Francisco Goya die Nachtseite einer Zeit, in der Kultur gemeinhin sonnig erschien – sowohl im Rokoko als auch in der Aufklärung.

Obwohl die Hamburger Kunsthalle eine pointierte und konzentrierte Werkauswahl zeigt, wird Piranesis Spektrum sichtbar. Seine Veduten und Phantasiearchitekturen, so lautet ihre Botschaft, gehören eng zusammen. Letztere sind von den römischen Ruinen inspiriert. In den Zisternen von Tivoli fand Piranesi jene gigantischen Räume, die er mittels seiner Erfahrung im Zeichnen von Bühnenbildern verfremdete. Er brachte in den Arbeiten seine Auffassung des Ruinösen auf den Punkt: daß die Ruine den Verfall zeitlich so dehnt, bis er dauerhaft wirkt.

Für die Dortmunder Ausstellung bilden die Veduten Piranesis das Rückgrat. Als roter Faden dient ihr die traditionelle Besichtigungsroute in fünf Tagen, so wie sie im 18. Jahrhundert üblich war: Kolosseum als Auftakt über das Forum Romanum und das Kapitol bis zur Cestius-Pyramide und die Diokletians-Thermen. Entsprechend dem damaligen Zeitgeschmack enthalten die Bilder eine Fülle von genrehaften Schilderungen des Lebens in den Ruinen. Einige von ihnen waren jahrhundertelang verbaut, einbezogen in Festungen und Wohnanlagen. Dem verstärkten arichvarischen Interesse der Barockzeit verdankten sie ihre Freilegung. Vom Kolosseum, dem prominentesten Bau, sagte Stendhal 1827: „Heute, wo es in Trümmer fällt, ist das Kolosseum vielleicht schöner, als in den Tagen seines höchsten Glanzes. Damals war es nur ein Theater ...“ Nicht alle der römischen KünstlerInnen, so zeigt die Dortmunder Auswahl, konnten diesen Bedeutungszuwachs widerspiegeln. Dabei beschränkt man sich in Dortmund auf die Zeit um 1750. Mit dieser Auswahl, die einen interessanten Querschnitt der Epoche liefert, geraten nicht nur die unterschiedlichen Möglichkeiten der Antikenrezeption in den Blick. Auch die Qualitätsspanne des damaligen Kunstmarkts wird deutlich.

Die Cestius-Pyramide ist wegen ihrer ägyptisierenden Form besonders pittoresk. Deshalb sind ihr zahlreiche Grafiken und Gemälde gewidmet. Giovanni Paolo Panini rückt sie in den Hintergrund einer erfundenen, fragmentarischen Thermenarchitektur. Dort steht sie bemoost und vom Alter benagt. Die Staffage allerdings zeigt den Besuch Alexanders an Achills Grab. Er variiert das Thema in einer Tafel, auf der er nun einen Apostel mit einer Sibylle diskutieren läßt. Seine Auffassung ist typisch: Die Ruinen werden mit wenigen Ausnahmen nicht rekonstruiert, obwohl sich viele Bilder in die Zeit zurückversetzen, da ihre Gegenstände noch nagelneu waren. Charles-Louis Clérisseau malte wahrscheinlich die beiden Ansichten mit dem Vesta-Tempel und dem Pantheon, vor denen sich römisches Volk tummelt und heidnische Riten feiert. Auch alttestamentarische Szenen werden ins römische Gewand gehüllt. Um so mehr verblüfft die Beharrlichkeit, in der auf dem Ruinösen der Bauten beharrt wird. Niemand kam auf die Idee, sie zu ergänzen, oder gar nachempfundene neue antikische Bauten zu errichten: 1750, kurz vor der Entdeckung der Geschichte als einem Eckstein der bürgerlichen Kultur, wurde in der Antikenrezeption zumindest schon die Differenz zwischen Vergangenheit und Gegenwart manifest.

Aufschlußreich sind auch die archäologischen Zeichnungen, in denen die Umstände deutlich werden, unter denen die Ruinen freigelegt wurden. Die Phocas-Säule auf dem Forum Romanum steckt in einer tiefen Grube, und Hubert Robert zeigt einen Steinschneider, der aus dem Block ein Relief herauslöst. Bis heute muß die Archäologie mühsam die Waage halten zwischen dem Erhalt und der Zerstörung ihrer Fundstücke.

Neben dem titelgebenden Tableau „Roma antica“ von Panini (aus der Stuttgarter Staatsgalerie) bezeugen die zwei großen gestochenen Pläne des antiken Roms von Giovanni Battista Nolli und von Piranesi, daß die Fülle der Ruinen die Menschen im 18. Jahrhundert überwältigte. Bis ins Detail wurde den Ursachen für ihre Erhabenheit nachgespürt. Ruinen sind Details ihrer Ursprungsbauten; Piranesi und andere sezierten darüber hinaus ihre architektonischen Elemente, die vermessen, umgezeichnet und in Kupfer gestochen wurden. Sie entmythifizierten damit die Antike und schufen aus den gewonnenen Bruchstücken antiker Geschichte künstliche Mythologien, aus denen sich die moderne „Antike“ herausdestillierte.

Nicht rekonstruiert, sondern neugebaut und erfunden wurden Ruinen demnach, und die vorhandenen detailliert wiedergegeben. Aus dem Krippenbau übernahm Antonio Chichi die Phelloplastik, den Bau von Korkmodellen. Verblüffend echt gibt der Kork die Verwitterung und die Ockerfärbung der Mauern wieder. Gegen diese Präzision kommen nicht einmal die mit Hilfe der camera obscura geschaffenen Werke der beiden Canalettos an.

Chichis Phelloplastiken gehören zu den Höhepunkten dieser Schau. Ihr ästhetisches Niveau verknüpft archäologische und architekturgeschichtliche Genauigkeit mit dem trivialen Vergnügen eines Liliput-Gartens à la „Legoland“. Sie scheinen das geheime Motto der Dortmunder Ausstellung auszudrücken: Es gibt keinen schöneren Bau als die Ruine eines Baues.

Ruinen stimulieren die Phantasie nicht viel weniger als erotische Bilder. Sie soll, so signalisiert die Werbung des Museums für Kunst und Kulturgeschichte, in der Ausstellung bestens bedient werden. In der Materialfülle der Variationen des Ähnlichen erlahmt indessen allmählich die Neugier. Toll trieben es die alten Römer, bis ihre Paläste und Hütten hin waren. In den alten Gemäuern liegt der Stoff unzähliger Geschichten und Filme, von Brutus bis Winckelmann. Während in der kleinen Hamburger Piranesi-Schau der sublime Horror jener Ruinen spürbar wird, verfliegt er im hellen Tageslicht der Dortmunder Säle.

„Giovanni Battista Piranesi. Bilder von Orten und Räumen“. Hamburger Kunsthalle, bis 17.7.94, Katalog 16 DM.

„Roma antica. Römische Ruinen in der italienischen Kunst des 18. Jahrhunderts“. Museum für Kunst und Kulturgeschichte Dortmund, bis 14.8.94, Katalog 50 DM