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■ Das Bundesverfassungsgericht und die BlauhelmeWir sind wieder wer!

Während Bill Clinton vor dem Brandenburger Tor versucht, den Auftritt Kennedys in Berlin zu kopieren, und die Republik sich entweder im Urlaub oder im Fußballtaumel befindet, fällt in Karlsruhe eine Entscheidung von historischer Dimension. Heute entscheidet das Bundesverfassungsgericht einen langanhaltenden politischen Streit, der seit der wiedererlangten vollen Souveränität der Republik lautet: Was darf die Bundeswehr, was nicht? Beschränkt das Grundgesetz die Bundeswehr auf die Verteidigung des Territoriums, in dem dieses Grundgesetz gilt, darf die Bundeswehr im Rahmen ihrer Bündnisverpfichtungen nur in den Grenzen der Nato-Staaten eingesetzt werden, oder läßt die Verfassung auch sogenannte Out-of- area-Einsätze zu?

Falls Einsätze außerhalb des Nato-Territoriums grundsätzlich zulässig sein sollten, muß noch geklärt werden, ob dies nur im Rahmen von UN-Friedensmissionen oder auch auf der Basis reiner Nato- oder WEU-Entscheidungen möglich sein soll oder ob die Bundeswehr gar solo, ganz nach eigenem Gusto die Sicherheit des Vaterlandes auch wieder allein in der weiten Welt in die bewährten Hände nehmen darf. Die Beantwortung dieser Fragen kann gar nicht ernst genug genommen werden. Und doch ist das öffentliche Interesse an dem Karlsruher Spruch mäßig.

Dafür gibt es außer der Terminierung noch einen weiteren triftigen Grund. Alle Beobachter und Kombattanten haben den Eindruck, die Entscheidung sei längst gefallen und das Gericht vollziehe nun nur noch nach, was de facto längst praktiziert werde. Im Friedensgutachten 94, einer Studie dreier Friedensforschungsinstitute, das dieser Tage erschien, wird anhand von zwei Zitaten deutlich, wie diese Realität heute aussieht. Der Satz: „Die Bundeswehr ist kein Instrument zur selbständigen militärischen Machtentfaltung der Bundesrepublik“, einer der Schlüsselsätze aus dem Verteidigungspolitischen Weißbuch 1985, taucht in Rühes neuem Weißbuch 1994, dem ersten nach der Vereinigung, nicht mehr auf. Statt dessen wird dort lapidar festgestellt, die Bundeswehr sei eines unter mehreren Instrumenten deutscher Außenpolitik, letztlich die Fortsetzung der Diplomatie mit anderen Mitteln zur Durchsetzung „deutscher Interessen“.

Diesem Weißbuch ging eine der gelungensten Inszenierungen der amtierenden Bundesregierung voraus, die zielstrebig nur eins im Auge hatte: die sogenannte „Normalisierung der Bundeswehr“ im Vergleich zu den westlichen Partnern. Die sich daraus ableitende Definition von „normal“ bedeutet, ein souveräner Staat müsse seine Armee zur Durchsetzung seiner nationalen Interessen einsetzen können – die Phase der nachkriegsbedingten Selbstbeschränkung der Bundeswehr auf die reine Landesverteidigung unter alliiertem Oberkommando ist endgültig vorbei, behaupten Rühe, Kinkel, Schäuble und Kohl immer lauter und unverhohlener.

Es ist tatsächlich kaum zu erwarten, daß das Bundesverfassungsgericht dem heute substantiell widerspricht. Überaus geschickt haben Rühe und Kinkel in den vergangenen Jahren Öffentlichkeit und letztlich auch das Gericht auf eine schiefe Ebene geführt, die ein Zurück zum Ausgangspunkt kaum mehr zuläßt. Konkret geht es um die Bundeswehreinsätze an der Adria zur Durchsetzung des Embargos gegen Serbien und Montenegro, um die Teilnahme deutscher Soldaten bei den Nato- Awacs-Flügen über Bosnien und die Afrika-Expedition nach Somalia. Adria-Einsatz und Awacs- Flüge sind nach wie vor im Gange, und beide Aktionen wurden vom Bundesverfassungsgericht in vorläufigen Eilentscheidungen nicht gestoppt. Das muß theoretisch zwar nicht viel heißen, praktisch wurden dadurch aber Fakten geschaffen, die jetzt, teilweise ein Jahr später, schwerlich als grundgesetzwidrig eingestuft werden könnten.

So dürfte die Bundesregierung heute den Lohn für eine Operation einstreichen, die geradezu lehrbuchmäßig abgewickelt wurde. Was mit Wahlbeobachtern in Namibia, noch zusammengesetzt aus BGS-Einheiten, also Polizei, begann, durch Sanitäter in Kambodscha weitergeführt wurde, seinen bisherigen Höhepunkt in Nato- Kampfeinsätzen in den Feuerleitzentralen der Awacs-Flieger fand, soll jetzt routinemäßig mit der Aufstellung und Bewaffnung sogenannter „Krisenreaktionskräfte“ fortgesetzt werden, die innerhalb von drei Tagen an jedem beliebigen Ort auf der Welt einsatzfähig sein sollen.

Um die Leistung des Duos Rühe-Kinkel – intern auch Plisch und Plum genannt – wirklich würdigen zu können, muß man sich noch einmal an den Start in die souveräne Zukunft erinnern. Kurz nach Abschluß des Zwei-plus-vier-Vertrages wurde in Paris auf einem feierlichen KSZE-Gipfel das neue Zeitalter des Friedens verkündet und eine entsprechende „Charta von Paris“ im Herbst 1990 verabschiedet. Ost und West schwärmte von einem neuen gemeinsamen Sicherheitssystem für Europa, der Warschauer Pakt war aufgelöst, und die Existenz der Nato wollte nicht nur den notorischen Pazifisten nicht mehr so recht einleuchten. Die Vereinten Nationen und – in Europa – die KSZE als ein regionales Subsystem der UN sollten die entscheidenden Institutionen für eine neue Weltinnenpolitik jenseits des Kalten Krieges werden.

Doch während in Paris, Wien – als Sitz des ständigen KSZE-Sekretariats – und New York viel Papier produziert wurde, waren in Washington, Brüssel und den anderen Nato-Hauptstädten die Weichen längst gestellt. Zwar durfte Butros Ghali seine „Agenda für den Frieden“, in der er eine unabhängigere Rolle des UN-Generalsekretärs von den großen Nationen forderte, noch veröffentlichen, aber weiter ging die Reform der Vereinten Nationen dann auch nicht. Für die KSZE wurden ein paar weitere einflußlose Büros geschaffen, machtpolitisch wichtig aber war vor allem die Reanimation der WEU, die den Westeuropäern eine stärkere militärische Eigenständigkeit gegenüber den USA sichern soll.

Die Bundesregierung tat nichts, um die Stellung dieser supranationalen Organisationen aufzuwerten, sondern verfolgte auch hier nur ihr Ziel der „Normalisierung“. Normal, so Kinkel, wäre es, wenn ein Land von der Bedeutung der Bundesrepublik einen Sitz als ständiges Mitglied des Weltsicherheitsrates bekomme. Und folgerichtig machte sich Rühe auch nicht für die KSZE stark, sondern unterstützte die osteuropäischen und baltischen Staaten, die ebenfalls bald merkten, daß für den Westen allein die alten Bündnisse bedeutsam bleiben, in ihrem Wunsch, selbst Nato-Mitglieder zu werden.

Das Ergebnis dieser Politik wird eine neue, nach Osten verschobene Frontlinie in Europa sein, die nichts anderes als den Triumph militärischer Logik über die politische Phantasie dokumentiert – falls, ja falls das Bundesverfassungsgericht nicht doch noch wider Erwarten die Notbremse zieht und zumindest eine teilweise Neufassung des Grundgesetzes erzwingt! Jürgen Gottschlich

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