„Dead Kennedys“ bei Clinton-Besuch tabu

■ Ausnahmezustand rund um die Synagoge in der Oranienburger Straße / Scharfschützen auf den Dächern

Der gestrige Morgen, an dem der Präsident der USA, William J. Clinton, mit 15 Bodyguards durch den Tiergarten joggte, begann für den 20jährigen Fred mit einer eiskalten Dusche auf dem Dach des ehemals besetzten Hauses in der Tucholskystraße in Mitte. Zur Feier des Tages hörte er dazu „Dead Kennedys“ und drehte die Punkmusik bis zum Anschlag auf. Kaum war das erste Stück verklungen, kam aus dem Tief des Hinterhofes lauter Protest. Der splitterfasernackte Fred spähte über die Brüstung des Dachgartens und sah unten mehrere Polizisten stehen. Die Beamten waren als Wachtrupp in dem Hinterhof abgestellt worden, weil dieser mit einer Seite an den Hof der Neuen Synagoge grenzt. Genau jener traditionsreichen Synagoge mit der goldglänzenden Kuppel, die Clinton am frühen Nachmittag besuchen wollte. Fred glaubte seinen Ohren nicht zu trauen, als ihm die Beamten von unten zuriefen: Das Betreten des Dachgartens und lautes Musikhören sei den Hausbewohnern ab sofort strengstens verboten. „Wenn es jemand wagt, bis 15 Uhr irgendwie zu stören, gibt's Ärger.“

Um 11 Uhr, als der amerikanische Präsident zusammen mit dem Bundeskanzler und dem Präsidenten der europäischen Kommission im Reichstag zur Pressekonferenz schritt, klopfte es heftig an die Pforte des Hauses in der Tucholskystraße. Vor der Tür standen der Kontaktbereichsbeamte (Kob), der Polizei-Einsatzleiter und mehrere Beamte. Sie stellten die Hausbewohner vor die Alternative: „Entweder ihr kommt alle auf die Straße, wenn Clinton in der Synagoge ist, oder wir postieren solange einen Beamten neben eurem Sicherungskasten. Der dreht euch sofort den Strom ab, wenn ihr die Musik aufdreht.“ – „Einen Bullen im Haus? Niemals!“ stand für die Bewohner fest. Nach einigem Hin und Her einigte man sich, eine Person beiderseitigen Vertrauens neben den Sicherungskasten zu setzen: einen Handwerker der Jüdischen Gemeinde, den der Kob sogleich höchstpersönlich vorbeibrachte.

Kurz vor 13 Uhr, als die Clintons und Kohls durch das Brandenburger Tor stolzierten, hockte der Handwerker auf einer Bank im schattigen Hinterhof der Tucholskystraße gemütlich im Kreise der Hausbewohner, während die auf den umliegenden Dächern postierten Polizisten und Scharfschützen des Secret Service in der prallen Mittagssonne schier vergingen. Nur auf dem sonst den Nonnen vorbehaltenen Dachgarten des katholischen Krankenhauses lümmelte sich ein Unifomierter unter grünen Reben im Liegestuhl.

Unten an der Tucholsky-/Oranienburger Straße bildeten sich unterdessen hinter den Absperrgittern Menschentrauben. Winkelemente wie am Brandenburger Tor waren kaum zu sehen. In der Sicherheitszone taten sich die sonnenbebrillten Djangos vom Secret Service und Berliner Götz Georges wichtig. Nach endlosem Warten war sie plötzlich da, die Karawane des diplomatischen Corps, gefolgt vom Lincoln des US-Präsidenten. Der Besuch der Synagoge dauerte eine gute halbe Stunde. Während der Rückkehr zu den Karossen schallten laute Pfiffe über die Straße. Sie galten Helmut Kohl. Jener schien jedoch andere Sorgen zu haben. War er in einen Hundehaufen getreten – oder warum hob er kurz vor seinem Mercedes plötzlich einen Fuß und belugte die Sohle? Dann scherte der beflaggte Lincoln aus. Hinter der dunklen Scheibe winkte schemenhaft ein grauhaariger Mann, und schwups war die Limousine vorbei. Kaum war der Präsident in Richtung Rotes Rathaus entfleucht, holte der Kob mit einem gezwirbelten Bart wie Kaiser Wilhelm den Handwerker der Jüdichen Gemeinde heim. „Ham'se dir was zu trinken angeboten?“ Der Handwerker nickte grinsend. „Von mir aus hätte das alles nicht sein müssen. Ich hätte den Besetzern auch so vertraut“, brubbelte der Kob vor sich hin. „Aber die da oben wollten es nun mal so.“ Plutonia Plarre