■ Zur Karlsruher Entscheidung in Sachen Bundeswehr
: Ab jetzt wird mitgeblutet

Schon wieder darf ein Stück bundesdeutscher Nachkriegsgeschichte für beendet erklärt werden. Mit seinem Urteil zu den umstrittenen Bundeswehreinsätzen hat das höchste deutsche Gericht die bis 1990 herrschende Lesart des Grundgesetzes in den Bereich der Historie verwiesen. Künftig darf sich die Bundeswehr nicht nur an Blauhelm-, sondern auch an Kampfeinsätzen im Rahmen der Vereinten Nationen beteiligen. Die hypothetische Frage, ob bereits 1985 vom Grundgesetz gedeckt gewesen wäre, was 1995 verfassungsrechtlich möglich sein wird, haben die RichterInnen nicht beantwortet. Schon mit der Frage hätten sie ihr Handwerk unter einen historisierenden Vorbehalt gestellt. So darf weiter gemutmaßt werden, ob die strikte militärische Zurückhaltung aller bisherigen Bundesregierungen von Anfang an obsolet und ihre verfassungsrechtliche Begründung ein bloßer Irrtum gewesen ist.

Die Frage nach der historisch-politischen Einbettung der Verfassungsinterpretation ist nicht nur akademischer Natur. Mit ihrer Beantwortung ließe sich auch das Unbehagen fundieren – oder beseitigen –, die Richter hätten sich von den Fakten beeindrucken lassen, die die Bundesregierung in den vergangenen beiden Jahren gesetzt hat. Der Eindruck bleibt, daß Kohls, Rühes und Kinkels offensive Abkehr von der bisherigen Auffassung auch für den Karlsruher Konsens eine bestimmende Rolle spielte. Mit ihrem Urteil jedenfalls haben die RichterInnen nicht nur prinzipiell die Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr definiert, sie haben im nachhinein auch die Aktivitäten in der Grauzone der Verfassung sanktioniert. Die Akteure haben gewonnen, die Zweifler, die sich auf den überkommenen Konsens beriefen, haben verloren.

Die Union jedenfalls beeilt sich, ihr großes Gefallen am Karlsruher Urteil zu bekunden. Doch die volle „Normalisierung“, von der im konservativen Lager immer mal wieder die Rede ist, läßt sich mit dem Karlsruher Urteil nicht bewerkstelligen. Auch weiterhin ist die Bundeswehr kein Instrument zur Durchsetzung souveräner, nationaler Interessen. Zwar werden deutsche Soldaten künftig auch außerhalb der Nato-Verpflichtungen kämpfen dürfen, doch bleiben solche Einsätze an den UNO-Auftrag gebunden. Wie das Experiment Somalia im übrigen gezeigt hat, war die Bundesregierung nicht sonderlich darauf erpicht, die Verwendung deutscher Soldaten von der Zustimmung des Bundestages abhängig zu machen. Auch in dieser Hinsicht hat das Gericht Klarheit geschaffen.

Die ausdrückliche Einbeziehung des Parlamentes ist denn auch – neben der prinzipiellen Klärung des Verfassungsstreites – das Ergebnis, mit dem die Sozialdemokraten ihre weitgehende Niederlage doch noch als Teilerfolg verkaufen können. Das ändert nichts daran, daß die SPD seit gestern ihre vermeintliche Schlüsselrolle im Verfassungsstreit verloren hat. Worüber sie mit der Bundesregierung gerne verhandelt hätte, ist längst erlaubt. So muß sich die SPD neuerlich um die parteiinterne Schlichtung kümmern. Es gehört zur Ironie der SPD-Debatte, daß ausgerechnet Hans-Ulrich Klose das Urteil entgegennahm, das zwar weitgehend mit seiner persönlichen Auffassung, nicht jedoch mit der seiner Partei übereinstimmt. Nicht schwer zu prognostizieren, daß sich die SPD noch ein wenig weiter auf den Prinzipienstreit verlegt und ansonsten ihr Ehrenwort gibt, Kampfeinsätze werde es unter ihrer Verantwortung niemals geben. Das Ehrenwort kann sie sich sparen. Spätestens seit die SPD im Bundestag das Sarajevo-Ultimatum ausdrücklich begrüßte, hat sie die politische Linie überschritten, jenseits der eine prinzipielle Ablehnung solcher Einsätze noch Sinn machen würde. Die SPD ist längst auf dem Weg. Damit sollte sie sich abfinden. Je schneller ihr das gelingt, um so entschiedener kann sie sich auf dem künftigen Konfliktfeld engagieren. Denn wieviel Verantwortung dem Parlament bei künftigen Einsatzentscheidungen wirklich zukommt, hat das Gericht ausdrücklich offengelassen. Je unmißverständlicher die Mitverantwortung des Bundestages festgeschrieben wird, desto geringer erscheint das Risiko, im gestrigen Urteil stecke der Freibrief für militärische Eskapaden.

Die Angst vor der Bundeswehr ist ein Phänomen der deutschen Innenpolitik. Ob sich das ändert, wurde nicht in Karlsruhe, sondern wird in Bonn entschieden. Noch während des Golfkriegs jedenfalls war die damals gültige Auslegung des Grundgesetzes für die Bundesregierung kein ärgerliches Hindernis, sondern eine höchst willkommene Restriktion. Ab jetzt wird mitgeblutet. Daß sich die bundesdeutsche Politik von dieser Möglichkeit zu waghalsigem Abenteurertum verführen läßt, darf, bis zum Beweis des Gegenteils, bezweifelt werden. Matthias Geis