Ecce Bombo!

Die Ästhetik der Niederlage – „Caro Diario“ ein römischer Tagebuchfilm ohne Heimatambitionen von Nanni Moretti  ■ Von Georg Seeßlen

Was wir derzeit, weiß der Kukkuck, brauchen, sind Kulturhelden. Einzelkämpfer gegen die neuen nationalen Schwurbel. Hier ist einer: Nanni Moretti. Und mit derselben Beharrlichkeit, mit der dieser italienische Meister eines raffiniert bescheidenen politischen Kinos zwei Jahrzehnte hierzulande ignoriert wurde, wird er nun mit „Caro Diario“ entdeckt.

„Caro Diario“ (Liebes Tagebuch) kreist um die Lebens- oder Überlebensstrategien des Intellektuellen in der rechtspopulistischen Postdemokratie. Heiter und selbstironisch, aber nicht ohne Zorn, führt er uns auf drei kleine Reisen, die durch Tagebuchaufzeichnungen begleitet werden. Das gibt dem Film Bewegung und Methode vor, er erscheint direkt und fragmentarisch wie spontane Notizen, und er erzählt in Form suchender/flüchtender Bewegung mit ungewissem Ausgang.

Das erste Kapitel folgt Nanni auf einer Fahrt auf dem Motorroller durch die Vorstädte des sommerlichen Rom. Lange begleitet die Kamera ihn durch ziemlich menschenleere Gegenden und vermittelt durch Perspektive, Montage und Musikbegleitung dabei eine heftige Spannung zwischen Melancholie und Euphorie. Nanni „tanzt“ sich mit der Vespa durch eine Stadt, deren Bewohner sich eingeschlossen haben; er begegnet Menschen und fragt sie nach ihrem Leben, aber viel wissen sie darüber nicht zu sagen. Das größte Abenteuer ist längst die Fahrt in die nächste Videothek.

Die Kinos sind geschlossen, oder sie zeigen Pornos und Horrorfilme, wie „Henry – Portrait of a Serial Killer“. Wenigstens im Traum rächt sich Nanni an einem Kritiker, indem er dem krank im Bett Liegenden erbarmungslos seinen eigenen prätentiösen Unfug vorliest. (Unsereiner ist gewarnt.) Oder die Kinos spielen italienische Filme, was vielleicht noch schlimmer ist.

Nanni sitzt im Zuschauerraum und hört sich verärgert das larmoyante Gerede von bürgerlich gewordenen Altlinken auf der Leinwand an; „warum sagen sie: ,wir‘“, schimpft er und will mit ihnen nichts zu tun haben. Schließlich hat er seine Vespa und seinen Verstand. Er kommt an die Stelle, wo Pasolini ermordet wurde: Ödnis, noch immer. Die Bewegung kommt zum Stillstand.

Das zweite Kapitel behandelt eine Reise über die liparischen Inseln; immer weiter weg. Aber nichts von alledem, was sich an mythischen Inszenierungen um solch sentimentale Reisen zu sich selbst, diese als Klärungsprozesse verkleideten Fluchten in die vergeblich reine Natur der schönen Provinz, gebildet hat, will funktionieren.

Sein Freund, der Nanni begleitet, weil er vor dem medialen Overkill den Rückzug in die Reinheit der intensiven Lektüre des „Ulysses“ von James Joyce sucht, erweist sich als TV-Junkie, der ohne die Fortsetzung seiner Soap Opera nicht leben kann, der Bürgermeister von Stromboli, der vergeblich versucht, den beiden Quartier zu bieten, trifft mit bizarren Modernisierungs- und Tourismus- Phantasien auf sich schließende Türen, und wo man die „Reinheit“ suchte, findet man nur ein „Fest des schlechten Geschmacks“ auf Panarea.

Das dritte Kapitel behandelt eine Odyssee durch Arztpraxen und Krankenhäuser; Nannis Juckreiz wird tausendfach gedeutet und behandelt, und die Diagnosen sind um so hanebüchener, je mehr sich die Ärzte die Aura von Autorität und Wissen geben. Am Ende wird ein heilbarer Tumor entdeckt; Nanni ist dem Tod, für den Augenblick jedenfalls, entkommen, und sein Blick in die Kamera zeigt uns das schiere Glück zu leben.

Die drei scheinbar so leichthändig inszenierten und verbundenen Episoden ergeben eine sehr präzise Komposition der Selbsterfahrung, und daß wir Nanni dabei nicht als eine vollständige Figur mit einer vollständigen Biographie erfahren, sondern als personifizierten Moment, als Übergang, macht die freie Übertragbarkeit dieses Modells aus. Handelt Kapitel 1 von der Möglichkeit, auf eine nomadische Art Fragen zu stellen, so Kapitel 2 von der Verweigerung von Antworten. Kapitel 3 schließlich ist die dialektische Antwort auf Bewegung und Stillstand, die Revolte des Innersten, des Körpers: Krankheit, natürlich, als Metapher, aber auch als die radikalste Form der eigenen Neuschöpfung. Zusammen ergibt das eine kleine, menschenfreundliche und antimythische Passionsgeschichte, eine Geschichte über die Notwendigkeit des Glücks.

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Nanni Moretti wurde 1953 in Brunico, in der Nähe von Bolzano, geboren; seine typisch kleinbürgerlichen Eltern waren dort oben gerade in einem typisch kleinbürgerlichen Urlaub. Nach der typischen Schulbildung begann er 1973, in den anni di piomba, mit der Produktion von Kurzfilmen auf Super-8. Lange Zeit versuchte er vergebens, für sein erstes großes Projekt, „Militanza, Militanza“ einen Produzenten zu finden. Dann war seine Geduld mit der italienischen Kinomaschine erschöpft, und er drehte, wieder auf Super-8, selbst finanziert, und produziert den Film mit dem programmatischen Titel „Io sono autarchico“. Moretti blieb Außenseiter der italienischen Cinematographie, aber ein leidlich erfolgreicher Außenseiter. 1978 entstand sein zweiter Langfilm, „Ecco Bombo“, der auf dem Filmfestival von Cannes präsentiert wurde. 1986 gründete er mit Angelo Barbagallo die Produktionsfirma „Sacher Film“ (die Sacher-Torte ist Nanni Morettis Lieblings-Süßspeise und kommt in der einen oder anderen Form in fast jedem seiner Filme einmal vor). 1990 präsentierte Moretti in Venedig einen Dokumentarfilm, „La cosa“, über den Zersetzungsprozeß der Kommunistischen Partei.

Erste Anzeichen einer „Nanni- Mania“ waren zu erkennen; Moretti war der Kerl, der der inneren und äußeren Lähmung der Intelligenz etwas entgegenzusetzen hatte. Er war der Held selbstironischer Vespa-Fahrer, die das Gejammere und die Selbstbeweihräucherung der alten Linken nicht mehr hören konnten. Um seine Figur Michele Apicella (das ist der Familienname seiner Mutter) hat er eine Art politisch-psychologischer Biographie entworfen, als work in progress. Wenn er in „Sogni d'oro“ seinen Filmemacher als einen hilflosen Dissidenten zeigt, der mit seiner Mutter und in großen Worten lebt, wendet er sich auch gegen die Mythopoeten der cineastischen Linken in Italien, gegen Bertolucci vor allem, wenn sie ihr Leiden an den großbürgerlichen Familien und Traditionen sakralisieren. Bei Moretti ist das alles vor allem furchtbar, komisch.

Das Wunderbare an Morettis Filmen ist, daß sein Held alle diese Widersprüche überlebt. Er bricht weder in die historische noch in die topographische Ferne auf, sucht sich keine großen und kleinen Buddhas zur Selbstfindung, er bleibt weder national noch heimatverbunden (dazu ist ihm die nächste Umgebung viel zu fremd), aber „territorial“. Er enthebt das Revolutionäre von seiner mehr oder weniger stalinistischen Abstraktion. Am Ende bleibt er, in „Caro Diario“, sozuagen nur als er selber übrig, und alles, was er an Nutzanweisungen aus seinen, wiederum zugleich persönlichen und politischen Erfahrungen gelernt hat, ist, daß ein Glas Wasser zum Beginn des Tages nicht schaden kann. Das ist gleich in seiner Fallhöhe komisch, es ist poetisch mehrdeutig und vor allem ganz und gar wahr.

In Morettis Filmen geht es nicht um die pompöse Überhöhung, sondern um die Vernetzungen. Konsequenterweise ist immer auch das Filmemachen selber in Frage gestellt. Man sieht bei ihm nicht nur den Filmemacher selber in mehr oder weniger komischen Verwicklungen zwischen privater Existenz und öffentlicher Moral, sondern es steht auch jede Szene auf dem Prüfstand, nicht zuletzt mit Hilfe der berühmten langen Einstellungen. Moretti „widerspricht“ auch Eisensteins Montage, überhaupt einem Kino, das seinem Publikum voraus sein will. Kaum hat man je soviel Freiheit wie in einem Film von Nanni Moretti, nichts drängt sich auf, und nichts versteht sich von selbst.

Moretti ist auch weit entfernt vom „politischen Kino“ der siebziger Jahre, vom „cineme di dinuncia“. In „Pate de bourgeois“ sieht man ihn, wie er auf dem Klo seine Kamera auf ein Stativ zu befestigen versucht; der Ort der höchsten Privatheit wird zum Ausgangspunkt für den ästhetischen Diskurs. Seine Ästhetik der Niederlage beschreibt stets Versuche, sich aus der Falle der Biographie zu befreien.

Immer steht ein kleiner Aufbruch im Zentrum, immer führt er am Ziel vorbei. Tulio Kezich hat, sehr zu Recht, die Konstellationen und die Struktur in diesen Filmen mit den „Peanuts“-Comics von Charles Schultz verglichen. Hier wie dort ergibt sich das Komische aus der seriellen Wiederholung der Niederlagen, die man nicht mehr für möglich gehalten hat. Dem Comic ist aber auch Morettis episodischer, fragmentarischer Erzählstil in Panels verwandt. Morettis Filme sind nie zu Ende erzählt; was „Ende“ genannt werden könnte, wird seriell verteilt, und nirgends scheint so viel Beginn wie dort, wo der Film von der Leinwand verschwindet.

Immer wieder gibt es Einstellungen des Verschwindens. Die Figuren gehen oder fahren vor der Kamera her, und diese findet gerade die Haltung zwischen Verabschieden und Folgen. Wenn man hinsieht, erkennt man die Möglichkeiten im Bild und hört, wie die komischen Helden diese Freiheit zunichte reden. Seine Innenräume sind zumeist eng und voller Erinnerungen an Versuche zu entkommen. In Nanni Morettis Filmen kann einem auffallen, wie komisch

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eigentlich die Einrichtung eines Zimmers ist. Der Außen-Innen- Spannung von Reduktion und Verschwinden (kaum sind sie innen, werden seine Figuren bleischwer und beginnen, in sich selbst zu kochen; kaum sind sie draußen, werden sie flüchtig, drohen sogar der Selbstwahrnehmung zu entfleuchen) zeigt sich noch einmal das Unmögliche des kleinbürgerlichen Intellektuellen. In seinen Träumen lehrt Michele in „Sogni d'oro“ italienisch, eine andere Sprache vielleicht, und gewinnt das Herz von Silvia, die ihn zurückweist. Am Ende verwandelt sie sich in einen Werwolf und verschwindet mit den Worten: „Ich will nicht sterben.“ Sie verschwindet, so wie das Jahr 1968 im Film eines Regisseurs zu verschwinden droht, der es zu einem Musical machen will.

Einen „Super-Narzißten“ hat Alain Philippon Moretti in den Cahier du cinéma genannt. Das stimmt vielleicht, wenn es eine Methode bezeichnet, es ist grundverkehrt, wenn es die Erzählrichtung beschreiben soll. Moretti spricht in seinen Filmen von sich ohne jede Eitelkeit und ohne jede Pose. Der Narzißmus ist die Quelle der Komik in Morettis Filmen, der psychosoziale Ausgangspunkt in ihnen; ihr Wesen ist die Öffnung. Jeder neue Film Morettis ist eine Versuchsanordnung für den von ihm geschaffenen Prototyp des Intellektuellen.

In „Palombella rossa“ ist Michele ein Politiker der PCI, der bei einem Autounfall das Gedächtnis verloren hat – eine Art biographischer Wiederholung des „historischen Kompromisses“; er erinnert sich nicht mehr daran, warum er eigentlich Kommunist geworden ist. Während des Wasserballspiels, das die Meisterschaft entscheiden wird, versucht er, seine Identität zu rekonstruieren. Die Puzzle-Teile der Erinnerung wollen sich zu keinem Ganzen fügen. Die Zeitung, die Familie, die Jugend, die politische Militanz. Figuren seiner Vergangenheit tauchen auch während des langen Spiels auf, traumhafte Verknüpfung von äshetischer Methode und politischem Thema. Mit der Tochter kehrt der Held nach Rom zurück, und wieder hat er einen Autounfall. Morettis Film über Wasserball und Kommunismus handelt von der Tücke des rückwärtsgewandten Lebens (gegen das er sich auch in „Caro Diario“ so vehement wendet), und er handelt, durch eine ungeheuer intelligente Montage von Zitaten und Verweisen, von der Liebe, die nicht unmöglich ist, aber verteufelt schwierig zu leben.

In „Caro diario“ scheint Moretti nun ganz bei sich selbst angelangt. Er muß nicht einmal mehr eine Rolle spielen. Nie war so wenig angemaßte Autorität eines Autors, nie zugleich so viel unaufdringliche Nähe zu einer Figur.

Hätten wir nur eine oder einen wie ihn!

„Caro Diario“. Buch und Regie: Nanni Moretti. Kamera: Guiseppe Lanci, Musik: Nicola Piovani, mit Nanni Moretti, Renato Carpentieri, Antonio Neiwiller. Italien/ Frankreich, 1993, 101 Min.