■ Es gibt einen Ruck nach rechts, es gibt einen nach links
: Gysi als Weltgeist

Die Kunst des korrekten Kolumnisten ist, daß er rechtzeitig zu denken aufhört. Aufrecht steht er auf seiner Säule (lateinisch: Kolumne) mit geringer Schwankungsbreite nach links oder rechts. Der Kolumnist als Säulenheiliger. Mir hingegen gerät die Kolumne zum Minarett, von dem das irrtumsfreundliche Lied der Zukunft plärrt. Undeutlich voraus dämmert ferne Hoffnung, und schon klar ist die nahe Niederlage im Herbst.

Schuld dran wird die PDS sein. Sie wird der SPD das Rückgrat brechen, sollte die denn eins haben. Macht's die SPD lesbisch – zwei alte Tanten tanzen Tango mitten in der Nacht –, wird sie gekillt nach allen Regeln antikommunistischer Artistik. Bleibt sie aber keusch – wird sie trotzdem gekillt. Es handelt sich um eines jener zahlreichen postmodernen Probleme, die alle unlösbar sind, wohin man sich auch wendet.

Kohl wird also gewinnen, und Scharping wird sein Kinkel-Ersatz – was bleibt denn sonst übrig? Es riecht in Deutschland immer weimarianischer. Zur Wende rechts, als reichte dies nicht, kommt jetzt die Spaltung links. Wer von der rosa-hellgrün-roten „Volksfront“ träumt, dem kann ich nur gute Nacht wünschen. Er vergißt, daß er in Deutschland schläft. Hier ist kein „Volksfront“-Boden, und auch wo einst einer war (Frankreich), ist es beiden Partnern übel bekommen. Laßt uns also von Wichtigerem reden – statt vom Altstern SPD vom Kometen PDS. Die Erfolge der PDS lassen aufhorchen, freilich nur den, der bisher Ohrstöpseln trug. Ich habe nie geglaubt, es werde keine Folgen haben, daß auf deutschem Boden fast ein halbes Jahrhundert lang ein sozialistischer Staat bestand, sei's auch ein realkommunistisch behinderter. Die PDS ist die sozialdemokratoide Chimäre der DDR.

Deutsche Wiedervereinigung heißt, daß zusammenwächst, was noch nie zusammengehörte, nämlich westliches, gemischt kapitalistisch-sozialdemokratisches Territorium mit östlichem, sozialistisch- kommunistisch Infiziertem. Ein solcher west-östlicher Diwan ist europäisch einmalig. Deutsche wie Europäer werden noch viel und grausamen Spaß kriegen mit dieser Wiederunvereinigung. Sie ist eine langwierige, heilsame Krankheit.

Mich überraschte nur, wie kurz die Inkubationszeit war, ehe das PDS-Virus virulent wurde. Aber es ist ja kein Wunder, bei so brutalem Neokapitalismus wie jenem, der sich als Besatzungsmacht über die Ostdeutschen hermachte. „Sozialismus ist nur ein Reflex des Kapitalismus“: Friedrich Engels. Gut gebrüllt, alter Maulwurf.

Indessen ist die Ära Kohl noch nicht zu Ende, und die Ära Schäuble hat noch gar nicht begonnen. Der Weg zum Sozialismus ist mit Niederlagen gepflastert. Bis aus der SPD wieder eine ordentliche Sozialdemokratie wird und aus der PDS wieder ein ordentlicher Kommunismus – das dauert. Da muß man revolutionäre Geduld haben. Fest steht nur schon, daß „in der Geschichte nichts vorbei ist, es kehrt wieder in verwandelter Form“: Novalis. Der romantische Liebhaber der Geschichte kriegt recht. Hurra. Nicht recht hatte der kluge Dummkopf, der vom „Ende der Geschichte“ bestsellerte, und zwar vom Ende durch Endsieg der Demokratie (Fukuyama). Es darf gelacht werden, und zwar gar nicht so bitter wie noch bis vor kurzem.

Längst ist der Pedeesismus ein europäisches Phänomen. Polen, Ungarn, allerhand GUS-Staaten: Ex-, Post-, Immernoch- und Schonwieder-Kommunisten gewinnen bei demokratischen Wahlen. Alte Antikommunisten und alte Kommunisten rotieren gemeinsam in ihren Gräbern. Wozu hat Lenin Revolution gemacht, wenn es vielleicht so auch geht, freilich erst lang hinterdrein! In der Euro-Karaoke-Bar tönt schon der Sound von „Der Osten ist rot“. Nur singt noch niemand den richtigen Text dazu. So rasch kam der alte Sozialismus wieder, daß keine Zeit blieb, einen neuen, schöneren zu basteln. Im gemeinsamen europäischen Haus wummern realfaschistische und realpedeesistische Bands rätselhaft durcheinander. Es gibt einen Ruck nach rechts, es gibt einen Ruck nach links, Europa werden die Beine unsanft gespreitet. Sie wird von zwei Stieren gleichzeitig geschwängert. Wir reiben uns die Augen. Der Kommunismus ist nicht tot. Der Antikommunismus ist nicht tot. Der Faschismus ist nicht tot. Der Antifaschismus vielleicht schon. Denn er hat die hohe Würde in sich, daß er nur greift, wenn er außer anti auch und vor allem pro ist. Der lebendige Antifaschismus ist Prosozialismus. Damit hapert's.

Aber dank konservativer Nachhilfe könnte es werden. Während nämlich die Sozialisten an den Sozialismus schon nicht mehr bzw. noch immer nicht glauben, schießen die Konservativen – sie glauben an die Wiederkehr des Sozialismus! – schon aus allen Rohren auf den raren roten Albatros. Möge er fliegen und nicht bloß humpeln, unser Überraschungsvogel. Wie wunderbar, daß die Fülle der unterdrückten Völker und Völkchen rätselhaft unversehrt unter dem gestürzten Sowjetkoloß hervorkrabbelte. Wie doppelt wunderbar, daß der Sozialismus überlebt haben sollte, doppelt: die blutig neunationalistischen Kolosse und Kolößchen und sein eigenes blutiges Sowjetzerrbild. Noch gar nicht gewöhnt an den Rechtsruck, kommt schon der nach links. Zur linken Hoffnung gehört seit je linke Skepsis. Wie wohl hätte dem Sozialismus ein Verweilen getan, ein längerer Kuraufenthalt in der wohlverdienten Niederlage, eine gründliche Rehabilitierung mit der nötigen praktischen und theoretischen Umständlichkeit! Aber nein, es geht im Sauseschritt. Alte Irrtümer bleiben unkorrigiert, alte Seilschaften unzertrennt, ungeschieden das altverdächtige Amalgam National- plus Sozialismus. Keine Zeit für etruskische Leberbeschau: diesen Teil wollen wir behalten, diesen unheilvollen schmeißen wir in den Kübel. In der Geschwindigkeit der Weltgeschichte gerät alles so unsauber.

Klarer als Siege sind immer nur Niederlagen. Schmetternd war die des Gesamtsozialismus, Kommunismus wie der Sozialdemokratie. Jetzt wissen wir, wie ominös die beiden Unvergleichlichen zusammenhängen. Kaum war die böse SU weg, hatte die brave Sozialdemokratie davon den Schaden – denn weg war auch die schöne Unternehmerlogik: Wir dürfen's nicht zu arg treiben, sonst nützen wir dem Kommunismus. Sie trieben's zu arg, jetzt kriegen sie die Quittung.

Es ist alles sehr komisch. Daß Gysi, außer klug zu sein, auch Kabarettist ist, sei Hinweis. Fahrlässig, wer's nicht linker will als der Pedeesismus. Feig, wer die Gelegenheit nicht bei der Glatze faßt. Der Weltgeist, den sich Hegel hoch zu Pferde dachte, ist heute ein Infotainer. Er macht Lust zum Seitensprung zwecks Störung fremder Ehen. So Unsittliches würde Tante Espede nicht im Traume treiben. In der Realität vielleicht schon. Günther Nenning

Publizist in Wien