Wissenschaftliche Gespräche im Knast

In der Türkei sind über 80 „Gesinnungsverbrecher“ inhaftiert / Die Opfer sind meist prominente Wissenschaftler, die es gewagt haben, sich zur Kurdistan-Politik zu äußern  ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren

Die Runde am Tisch – linke Istanbuler Intellektuelle – hebt die Gläser und setzt zum Trinkspruch an: „Auf dich, Haluk Gerger!“ Der Trinkspruch wird zugleich Inhalt eines Telegramms an die Strafvollzugsanstalt, in der der Autor und Publizist Dr. Haluk Gerger seit dem 27. Juni einsitzt. Nur kurz vor der Einlieferung ins Gefängnis hatte die Runde mit Gerger gefeiert. Nicht Trauer und Beklommenheit, sondern Fröhlichkeit herrschten. „Mein Gefängnisaufenhalt wird den Staat teuer zu stehen kommen“, sagte der 46jährige Gerger bei der Gelegenheit.

Heute sitzt der ehemalige Dozent für Politikwissenschaften an der Universität Ankara, der aufgrund des berüchtigten „Anti-Terror-Gesetzes“ verurteilt wurde, eine zwanzigmonatige Gefängnisstrafe ab. Er hatte ein Grußadresse an eine Gedenkveranstaltung für drei Studenten, die 1972 vom Militärregime hingerichtet wurden, geschrieben. Das brachte dem bekannten politischen Autor die Gefängnisstrafe ein. Die Richter des Staatssicherheitsgerichts Ankara hatten in der Grußbotschaft, die im Mai vergangenen Jahres auf der Gedenkveranstaltung verlesen worden war, „separatische Propaganda“ ausgemacht.

„Ich zahle meine Schuld an das kurdische Volk ab“, meint Gerger. Jetzt hofft er auf eine Verlegung in das Gefängnis Haymana, wo seit März sein Freund und Kollege Fikret Baskaya sitzt. Baskaya lehrt an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Universität Bolu.

Baskayas Buch „Westernisierung, Modernisierung und Entwicklung – der Bankrott eines Paradigmas“ hat ihm ebenfalls eine zwanzigmonatige Gefängnisstrafe eingebracht. Der türkische Staat macht es möglich: wissenschaftliche Gespräche hinter Gefängnismauern statt im Hörsaal der Universitäten.

Haluk Gerger und Fikret Baskaya sind keine Einzelfälle, wie auch ein Bericht von amnesty international“ vom Juni deutlich macht. Intellektuelle, Gewerkschafter und Menschenrechtsaktivisten werden aufgrund von Meinungsäußerungen oder Publikationen zunehmend Opfer der politischen Justiz. Das türkische Strafgesetzbuch hält eine Fülle von Paragraphen bereit, mit denen sie als sogenannte „Gesinnungsverbrecher“ zur Strecke gebracht werden.

Durch die Staatssicherheitsgerichte rollt eine Prozeßlawine, und über achtzig Personen, deren „Verbrechen“ darin besteht, unliebsame Gedanken geäußert zu haben, sitzen derzeit schon ihre Haftstrafen ab. Es gibt kaum einen prominenten Kritiker der staatlichen Kurdistan-Politik, dem nicht vor irgendeinem Staatssicherheitsgericht der Prozeß gemacht wird. Die Verurteilung von Hunderten „Gesinnungstätern“ steht noch bevor.

Über Jahrzente hinweg wurden linke Intellektuelle in der Türkei mit den Paragraphen 141 und 142 des Strafgesetzbuches, die dem Strafgesetzbuch des faschistischen Italien unter Mussolini entlehnt waren, verfolgt. 1991 wurden die Paragraphen zusammen mit Paragraph 163, der sich gegen islamfundamentalistische Autoren richtet, abgeschafft.

Doch dem Regen folgte die Traufe. Das parallel verabschiedete „Anti-Terror-Gesetz“ besteht aus Gummiparagraphen, mit welchen Kritiker hinter Schloß und Riegel geschickt werden. Insbesondere der Paragraph 8 des Gesetzes, der „schriftliche und mündliche Propaganda mit dem Ziel, die unteilbare Einheit des Staates mit Nation und Staatsland zu zerstören“ unter Strafe stellt, ist unter Staatsanwälten und Richtern beliebt.

Ismail Besikci, Autor von über fünfzig Büchern zur kurdischen Frage, der bereits über ein Jahrzehnt in türkischen Gefängnissen verbrachte, muß seine Verteidigungsreden vom Gefängnis aus vorbereiten. In 77 verschiedenen Anklagen – zumeist aufgrund des „Anti-Terror-Gesetzes“ – fordern die Staatsanwälte Strafen, nach denen der Autor über 350 Jahre Haft absitzen müßte.

Die Verfolgung trifft auch diejenigen, die ausdrücklich politische Gegner der kurdischen Guerilla PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) sind. Der Rechtsanwalt Ahmet Zeki Okcuoglu wurde gar von der PKK als „Verräter“ gebrandmarkt. Auch er entging nicht einer zwanzigmonatigen Gefängnisstrafe, die er im Gefängnis Gemlik nahe der Stadt Bursa absitzt. Eine Podiumsdiskussion, bei der der Begriff „Kurdistan“ gefallen war, wurde ihm zum Verhängnis. Kurz vor seiner Einlieferung ins Gefängnis im Januar gab er der Tageszeitung Cumhuriyet ein Interview. „Ich habe stets Terrorismus und Gewalt verurteilt. Ich habe mich denjenigen widersetzt, die sich bewaffnet haben. Doch der Staat hat mich als Terroristen angeklagt und verurteilt“, sagte er.

„Bücher, Zeitschriften, Zeitungen, ja der Gedanke schlechthin, gelten als Terrorismus“, klagen 75 Verleger in einem offenen Brief an den türkischen Justizminister Seyfi Oktay. Nicht nur Autoren, sondern auch ihre Verleger werden zu Opfern der repressiven Strafgesetze. Gefängnisstrafen und horrende Geldstrafen nach jedem Buch, das aufgrund des „Anti-Terror-Gesetzes“ verboten wurde, sollen kritische Verleger in die Knie zwingen.

Der Verlag „Belge“ ist ein angesehener linker Istanbuler Verlag. Zwölf Bücher des Verlages „Belge“ wurden in den vergangenen vier Jahren beschlagnahmt. Die Verlegerin Ayse Zarakolu sitzt zur Zeit im Gefängnis Bayrampasa eine fünfmonatige Gefängnisstrafe ab, weil sie ein Buch Ismail Besikcis zur Kurdenpolitik in den dreißiger Jahren veröffentlichte. Die Verlegerin muß sich im Gefängnis auf weitere Prozesse vor dem Staatssicherheitsgericht vorbereiten.

Unter anderem hat die Publikation des Buches „Das armenische Tabu“ von Yves Ternon, eine Auseinandersetzung mit dem Völkermord an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs, eine Anklage wegen „Verbreitung rassistischer Gefühle“ eingebracht. „Welch ein Wahn, ein Buch zum Völkermord wegen Rassismus anzuklagen“, kommentiert ihr Ehemann Ragip Zarakolu, der ebenfalls als Verleger tätig ist.

Bestrebungen der Sozialdemokratischen Volkspartei (SHP), die berüchtigten Paragraphen des Anti-Terror-Gesetzes, nach denen „Gesinnungstäter“ abgeurteilt werden, abzuschaffen, scheiterten bislang am Widerstand des rechten Koalitionspartners DYP (Partei des rechten Weges) unter Ministerpräsidentin Tansu Çiller.“ Dem Image der Türkei in Europa wird Schaden zugefügt. Die Grenze zwischen Gedanken und Taten muß neu gezogen werden, meint der sozialdemokratische Justizminister Oktay.

Mittlerweile haben sich auch die Militärs die Sorgen des Justizministers zu eigen gemacht. Der Nationale Sicherheitsrat, wo die Generäle den Ton angeben, hat den Justizminister beauftragt, einen Bericht zu der Problematik zu verfassen. Der Auftrag wird als grünes Licht für eine Gesetzesänderung gewertet. Denn über das Maß an Demokratie bestimmen die uniformierten Herren. Vor wenigen Monaten ist es Ministerpräsidentin Tansu Çiller aus dem Mund gerutscht: „Die Demokratisierungsschritte bespreche ich mit dem Generalstabschef.“