Eine Hamburger Familiengeschichte

■ Die „Alternative Baubetreuung“, ein Senatsprogramm „Wohnraumschaffung und Sanierung in Zusammenarbeit mit Betroffenen“, wird zehn Jahre alt. Aus diesem Anlaß erscheint dieser Tage das Buch „Selber machen / Anders wohnen“. Die taz dokumentiert im folgenden, frisch aus dem Zensurarchiv, einen für dieses Buch verfaßten Beitrag des Sozialwissenschaftlers Jens Dangschat, dessen Erscheinen die Stadtentwicklungsbehörde, Mitfinanzier des Buches, verhindert hat.

Ein zehnter Geburtstag: Darauf sind alle Eltern stolz! Alle? Es gibt Kinder, die feiern, wenn überhaupt, lieber heimlich. Ein solches Kind ist der „Alternative Baubetreuer“, kurz „Abe“. Ungeliebt und mehr aus Not gezeugt, denn aus Überzeugung oder gar Liebe. Ein schräger Vogel, knapp gehalten, weil er so garnicht in die stolze Familie Hammonia paßt.

Abe hat einen Zwillingsbruder. Der, ein prächtiger Junge nach Kaufmannsart, mit reichlich Vorschußlorbeeren bedacht, erblickte 1984 das Licht der Welt. Als Erbe ausersehen durfte er den Familiennamen tragen: „Unternehmen Hamburg“, kurz „Uha“. Uha brachte zuerst einmal die Erbfolge durcheinander: Da war die „Hafenmafia“, der die Familie ihren Wohlstand verdankte. Sie kränkelte schon arg, hielt sich aber mit massiven Frischzellenkuren aktiv. Auch der nörgelige Onkel Gewerkschaft, bislang gut mit Hafenmafia im Boot, war plötzlich von Auszehrung bedroht. Beide wurden übergangen.

Der Familienboß von Duhnai regelte die Erbfolge neu, bestimmte die jungen Nichten Flughafen, Medien, High Tech und produktionsorientierte Dienstleistungen als Hoffnungsträger.

Der Familienfrieden hing schief bis sich, nur ein halbes Jahr nach Thronfolger Uhas Geburt, die mächtige Erbtante Handelskammer einmischte. Sie verordnete dem Aufsichtsratsvorsitzenden von Duhnai ein neues Unternehmenskonzept: Das Zentrum sollte schöner werden und mit einer Mischung von Messe, Kultur, Einkauf und Business neue, kaufkräftige Menschen anlocken. Für diese Klientel waren die Wohnviertel rings ums Zentrum herauszuputzen, Bühnen zur Selbstdarstellung inklusive. Stammhalter Uha bekam einen Topmanager spendiert, der das Tor der Hammaburg weit öffnete, um neue „subcontractors“ anzulocken. Als sie kamen, machte das die ganze Familie stolz.

Und Abe, das schwarze Schaf? Obwohl sich alle nur um Zwillingsbruder Uha kümmerten, war auch sein Weg relativ erfolgreich. Er saß noch lange im Laufställchen und kümmerte sich um sich selbst. Da er nie richtiges Spielzeug hatte, lernte er, aus dem, was andere wegwerfen oder nicht beachten, kleine Dinge zu basteln: Kleine Schächtelchen mit Figürchen, die er reparierte und denen er neue Aufgaben gab.

1987, im reifen Alter von drei Jahren, erkannte ihn der Aufsichtsrat plötzlich doch als offizielles Kind von Hammonia an. Der Grund lag nicht etwa in schlechtem Gewissen: Zu Abe kamen einfach immer mehr Kinder, die nichts von „paystabil“ oder „lebo“ wissen wollten, sondern auf Selbstgebasteltem standen. Weil Abe mit diesen Kindern so gut klar kam, durfte er sich ihnen offiziell widmen. Die Familie war erleichtert – schließlich hatten diese Kids so gar keine Manieren.

Abe bekam sogar ein wichtiges Familienmitglied zugeteilt – Lagner. Der saß im Erbhof „Bau“. Lagner legte sich nie zu sehr fest, weil er möglichst lange regieren wollte. Die Bediensteten des Erbhofs mochten Abe zwar nicht – erkannten aber immerhin seinen Nutzen. Er bekam ein richtiges Konto mit Dauerauftrag. Lagner dachte sich eine besondere Prüfung für Abe aus. Er hatte ein Kind, das lebte unten am Hafen, wo Lagner und sein Kobold Rossak eigentlich neue Wohnungen für die Angestellten bauen wollten. Das Kind aber benahm sich ungehörig: Wenn man es ärgerte, gab es Widerworte und schmiß mit Steinen. Abe sollte es erziehen, damit die Hafengöre den Ruf Hammonias nicht weiter gefährden konnte. Der schlaue Lagner hatte alles fein bedacht: Hatte Abe Erfolg, dann war er die Rotzgöre los. Scheiterte Abe, dann konnte man ihn feuern. Lagner sperrte vorsichtshalber schon mal das Konto und verbot allen anderen Kindern Hammonias, mit dem Hafenkid zu spielen.

Doch so raffiniert es Lagner auch anstellte: Die Hafengöre war ihm über. Geschlagen zog der Erbhofverwalter Abe wieder ab – andere Erzieher werkeln seither am Hafen.

Um Abe wurde es anschließend stiller. Er kam zur Schule. Weil er sich brav an die Vorgaben des Erbhofregenten hielt, sich keine neuen Spielplätze suchte, weder faul noch vorlaut war, nicht auffiel und brav seine Hausaufgaben machte, zahlte Lagner wieder regelmäßig auf Abes Konto ein. Was Abe aber fast noch mehr freute – von den Erbhofdienern kommen jetzt immer häufiger mal welche vorbei, unterhalten sich mit Abe und loben seinen Schulfleiß. Manche sind sogar so interessiert, daß sie Abe beim Basteln mit anderen Kindern zuschauen. Die Vasallen und Regenten aus den oberen Etagen des „Baus“ lassen sich zu Abes Verdruß aber nie blicken.

Das hat sich auch nicht geändert, als er vor drei Jahren einem neuen Erbhof zugeteilt wurde, wo eine regierte, die sich zwar traute, aber nicht in den Rat der Erbhöfe zugelassen wurde.

Bis heute hat Abe kaum Kontakt mit Zwillingsbruder Uha, der sehr erfolgreich in der Schule gestartet war. Er wurde immer besser und durfte eines Tages sogar den Ehrenbeinamen „Boomtown“ tragen. Da war der neue Aufsichtsratsvorsitzende richtig stolz. Der alte Boß hatte gehen müssen, weil er sich mal zu intim mit der Hafengöre eingelassen, sie sogar ein klein wenig in Schutz genommen hatte. Uhas Erfolge zeigten sich unter anderem daran, daß die Familie nun mehr Baukräne hatte als die anderen im Lande. Die Kräne standen da, wo die graue Eminenz Handelskammer sie schon immer hatte hinbeordern wollen. Und Rossak war überglücklich, daß seine Stadt nun endlich das Mittelmaß verließ. Er schmückte die Aufsteigerin überreichlich mit Ziegelsteinen, Stahl und Glas – dem, was er als Neuinszenierung des Urbanen versteht.

Plötzlich aber erkrankte Boomtown Uha, fiel in der Schule zurück, schaffte das Pensum nicht mehr. Ihm passierten zunehmend Mißgeschicke, die andere „Nebeneffekte“ nannten. Viele aus der Familie Hammonia glaubten weiter fest an den Thronfolger, wiesen jede Mitschuld von ihm und sich zurück. Schließlich ließ sich Uhas häßlicher Ausschlag nicht länger verbergen.

Man redete scheu von den ekeligen „Sozialen Brennpunkten“. Die Herrschenden Hammonias waren peinlich berührt. Sie kannten die Krankheit von anderen alteingesessenen Familien und hatten Angst, sie könnten beim Festumzug alle vier Jahre nun nicht mehr den ihnen gebührenden Beifall finden.

Davon ungerührt feiert Abe jetzt seinen 10. Geburtstag. Er ist in den vierten Klasse. Nun müssen die Eltern entscheiden, welchen Schulweg er künftig gehen soll. Hauptschule? Diese Sackgasse will er nicht. Die Realschule würde seinem bisherigen Weg am ehesten entsprechen. Und ins Gymnasium? Da warten neue Aufgaben – er müßte sich auch mit anderen zusammen tun, um das Pensum zu schaffen. Er verlöre dann wohl auch seine alten Freunde. Also Gesamtschule, vielleicht sogar eine mit besonderer pädagogischer Prägung?! Das wäre gut für Abe. Dort würde sein ganzheitliches Verständnis von Wohnen, Arbeiten und Lernen wohl am besten verstanden. Dort könnte er sein vernetztes Denken und Handeln anwenden. Er würde auch seine Freunde nicht verlieren und könnte sich trotzdem neuen Aufgaben zuwenden.

Aber: Diese Schule kostet Geld, reichlich Geld, das Hammonia eigentlich für Uha reserviert hat. Aber Abe bringt mehr ein, als er kostet. Bei Uha ist diese Relation nur dann positiv, wenn man nicht berücksichtigt, was er an „Nebeneffekten“ erzeugt, die nicht zuletzt Abe dann wieder ausbügeln soll.

Auf Dauer, das ahnt Hammonia, wird sie an Abe doch nicht mehr vorbeikommen.