: „Wir leben doch alle unter einem Himmel“
■ Völkerverständigung im Pfarrgarten / Was unterscheidet Bruchhausen-Vilsen von Dolgenbrodt?
Wie ist zu erklären, daß, wie in Dolgenbrodt, sich ein ganzes Dorf zusammenrottet, um ein Flüchtlingsheim von Neonazis niederbrennen zu lassen, daß andererseits, ein Stück weiter unterm selben Himmel, eine Gemeinde um das Zusammenleben mit Flüchtlingen bemüht ist? Was unterscheidet die BürgerInnen aus Dolgenbrodt von denen aus Bruchhausen–Vilsen?
„Ich kann bölken“, versichert Familienpflegerin Doris Bolte und eilt, dem inzwischen heiser gewordenen Pastor Unger ihre Stimme zu leihen. Gemeinsam versuchen sie, die Festgäste im Pfarrgarten auf „Holger aus Barnsdorf“ aufmerksam zu machen, eine wundersame Erscheinung, die auf Stelzen mit Klobürsten, Schrubbern und Devilsticks jongliert. Alte Damen in gestärkten Blusen verlassen vorübergehend die Tortenstückchen und plazieren ihre Klappstühle hinter der ersten Reihe, welche freilich den Kindern vorbehalten bleibt _ Kindern aus aller Welt: Aus „Anatolien, Armenien, Albanien, Rumänien, Afrika, Rußland, Bruchhausen-Vilsen und umzu“, findet Gerhard Unger seine Sprache wieder und benennt auch gleich das Motiv der Veranstaltung: „Es ist derselbe Himmel, unter dem wir leben.“
Das sagt sich so leicht, danach zu handeln scheint oft schwieriger. So mancher in der 2000-Seelen-Gemeinde Vilsen sah Mitte des vergangenen Jahres dräuendes Unheil an diesem Himmel aufziehen. Wie eine Hiobsbotschaft wirkte die Nachricht, daß am Gemeinderand eine Unterkunft für etwa 140 Asylsuchende entstehen würde. Dabei aber, hält Pastor Unger den Mantel über seine Schäfchen, habe weniger Ausländerfeindlichkeit im Vordergrund gestanden, als vielmehr die Angst davor, daß das Flüchtlingsheim wie ein Magnet auf Neonazis wirken könnte, und marodierende Horden in die wohlverdiente Rentenruhe des Dorfes einfallen könnten.
„Bisher is nix passiert, die im Heim werden ja aufgepaßt von Sozialarbeitern“, freut sich eine Nachbarin der Unterkunft. Und wie ist ihr Verhältnis zu den Flüchtlingen? Klar gab das schon mal Spannungen, räumt die Frau ein. So hat sie sich mal mächtig geärgert, als die Flüchtlingskinder den Kirschbaum plünderten, noch bevor die Früchte überhaupt reif waren. „Aber das machen deutsche Kinder auch“, ergänzt sie gutmütig. Komisch fand sie nur, daß die Eltern der Kinder später die von ihr angebotenen roten Kirschen dankend ablehnten. „Da ham sie gesagt, da kriegt man Bauchschmerzen von.“ Also waren die geklauten Kirschen saurer als die Baumbesitzerinnen? „Ja, bestimmt“, lacht das inzwischen auf eine beachtliche Bridgerunde angewachsene Gegenüber. Das Damenquartett ist sich auch darin einig: „Die Flüchtlinge sind ganz freundlich, die winken schon mal auf der Straße und fragen: Hallo, Oma, wie geht's?“
Das Aufpassen und Winken überlassen sie allerdings erstmal anderen. Der direkte Kontakte zwischen Einheimischen und Flüchtlingen könnte besser sein, räumt Doris Bolte ein, „aber das muß ja auch langsam wachsen. Besonders die Älteren tun sich damit erstmal schwer.“ Wie aufgereihte Perlen sitzen die Rüschendamen im Pfarrgarten und beobachten die neuen DorfbewohnerInnen aus sicherer Distanz. Ob sie von deren Herkunft etwas wissen? Doch, Pfarrer Unger erzählt ja schon mal was während der Predigten oder an einem der Informationsabende. „Das sind doch zum Teil schreckliche Geschichten, wenn die aus einem Land kommen, wo Hungersnot herrscht oder Krieg ist. Das haben wir ja auch erlebt und wissen, wie furchtbar das ist. Da muß man doch helfen.“ Wie wahr, und trotzdem kommen viele in diesem unserem Lande zu einem anderen Schluß, verweigern sich und das, was man als Gnade der frühen Geburt bezeichnen könnte.
„Ich bin eigentlich ganz zufrieden“, urteilt Rainer Tinnefeld, Sozialarbeiter der Samtgemeinde Bruchhausen-Vilsen, „Rassismus gibt es hier nicht. Im Notfall sind alle füreinander da.“ Daß das so ist, führt er vornehmlich auf den „Runden Tisch“ zurück, den Pastor Unger initiierte, noch bevor das Heim in nur vier Wochen aus dem Acker gestampft und im Juni eröffnet wurde. „Der Pastor hat schon im Vorfeld für gute Kontakte gesorgt“, erinnert sich Tinnefeld. Am Runden Tisch nehmen etwa 20 Menschen teil, evangelische und katholische Gläubige, daneben aber auch Konfessionslose. Danach fragt hier niemand, wichtiger ist das gemeinsame Anliegen: Den Kontakt zwischen den Flüchtlingen und den alteingesessenen BewohnerInnen der Gemeinde zu verbessern.
Am Runden Tisch werden Informationen ausgetauscht und Aktionen geplant. Hätte beispielsweise die Landesregierung zu Beginn des Jahres ihre Drohung wahrgemacht und beschlossen, den Asylsuchenden statt Geld nurmehr Lebensmittelgutscheine auszuhändigen, wären voraussichtlich der Pfarrer im Verbund mit dem Molkereifachmann, der Sekretärin und Lehrerin, den SozialarbeiterInnen, Gemeindeschwestern und Hausfrauen in die Lebensmittelläden geschwärmt, um deren Leiter zu überreden, diese Karten abzulehnen. Hier wird organisiert, daß die Flüchtlinge bei Arzt-, Amts- und Anwaltsbesuchen nicht alleine sind. Schönere Anlässe zum Handeln bieten der armenische Abend, die Nikolausfeier, das Frauenfest, oder eben das gemeinsame Sommerfest im Pfarrgarten.
Alle BewohnerInnen des Flüchtlingsheims sind gekommen und bilden mit den Ur-VilsendorferInnen das Auditorium, vor dem Pastor Unger soeben die Modenschau der Haute Couture von Vilsen moderiert: Glucksende Gemeindemaiden präsentieren den dernier cri, der durch die Truhen heimischer Dachböden jammert. Das Publikum auf den Feuerwehrbänken applaudiert begeistert, um sich anschließend wieder den von Kirchen- und Flüchtlingsfrauen gezauberten Kuchenbergen zuzuwenden. Wer hat den quietschbunten da zu verantworten? „Teig Seda, Frisur ich“, gesteht Wadui zwinkernd und retourniert, auf den Tasseninhalt weisend: „Deutsches Modell nicht gut, armenischer Kaffee besser.“ Wadui hat heute Geburtstag und erhält vom Heimleiter Blumen. Eine ganz normale Geste?
Die Kinder sind derweil in der Obhut der Pfadfinder hörbar gut aufgehoben. Sie versprühen die Zeit mit Topfschlagen, Dosenwerfen, Seilziehen und ähnlich kraftraubenden Spielen. Der Einsatz der Fingerfarben führt allerdings zu Tränenströmen, die Festtagsanzüge und –kleidchen, Miniaturausgaben der elterlichen Garderoben, haben gelitten. Was solls, da ist schon die nächste Attraktion: Eine achtjährige Libanesin betört zu den Trommelschlägen des Vaters die Gemeinde mit gekonntem Bauchtanz. Die VilsenerInnen staunen.
„Die Deutschen kennen nicht viel von anderen Kulturen“, weiß John, der Germanistikstudent aus Angola. „Sie denken, wir wären nur wegen Geld hier und Schuld an der Arbeitslosigkeit.“ John, der in einem benachbarten Dorf wohnt, kommt gern hierher, um am Runden Tisch teilzunehmen oder die Feste mitzufeiern. In Vilsen findet der Student, der so gern studieren möchte, aber die acht Kilometer entfernte Landkreisgrenze nicht verlassen darf, mehr Kontakt als in seinem Unterbringungsort: „Hier sind die Leute offener, hier kann man sich entspannen.“
Derselben Meinung ist Christian, ein Rumäne. Er hat, was den meisten Asylsuchenden versagt bleibt, eine Arbeit gefunden. Der Job in der Schlachterei gefällt ihm, zumal der Besitzer ihn wie einen zweiten Sohn aufgenommen hat und dem Rumänen eine Wohnung im eigenen Haus zur Verfügung stellt. Christian würde gern hierbleiben, zumal auch die Eltern seiner Freundin ihn nach anfänglichen Bedenken akzeptiert haben. Christian wird jedoch voraussichtlich im November ausgewiesen, sein Asylantrag wurde abgelehnt.
Inzwischen zieht der Geruch von Hammelbraten durch den Pfarrgarten und vereint Männer unterschiedlichster Nationalitäten am Grill. Auch die Frauen an den Tischen sind sich nähergekommen. Verbindend wirken neben Kindern dabei besonders die Frauen, die nach einmal überwundener Schwellenangst dem Heim heute kontinuierliche Besuche abstatten, wo sie die reichhaltigen Kleider- und Spielzeugspenden des Dorfes verteilen und, was noch wichtiger scheint, regen Kontakt zu den Flüchtlingen pflegen.
„Davon hab ich selbst –ne ganze Menge“, beteuert Doris Bolte, die auf eine lange Erfahrung zurückblicken kann. Vor sieben Jahren wurde die Familienhelferin von der Gemeinde mit der Betreuung einer libanesischen Familie beauftragt, die ob der Geburt von Drillingen plötzlich auf neun Mitglieder angewachsen war und dringender Hilfe bedurfte. Offiziell gewährt wurde eine zweijährige Unterstützung, aber Doris Bolte machte ehrenamtlich weiter. „Wir hatten uns inzwischen richtig angefreundet“, begründet sie. „Ich habe da so viel Gastfreundschaft erfahren“, und sie meint nicht allein die Blumen und anderen Geschenke. Als zum Beispiel ihr Mann lange Wochen im nur schwerlich per Bus erreichbaren Krankenhaus lag, bot ihr die libanesische Familie an, sie mit dem Auto zu fahren.
Das Erlebnis allerdings, an das sich Doris Bolte am liebsten erinnert, fand anläßlich des vergangenen Osterfestes statt: Die Gemeinde hatte sich vorgenommen, in der Kirche verschiedene Bibeltexte in mehreren Sprachen zu verlesen. Doris Bolte hatte den arabischen Part übernommen, denn der libanesische Familienvorstand hatte ihr Übersetzungshilfe angeboten. „Ist das nicht wunderbar? Man muß bedenken, der Mann ist Moslem, der darf das eigentlich gar nicht. Als ich ihn daraufhin befragt habe, antwortete er: Wir haben doch alle den einen Gott.“
Dora Hartmann
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