Exportschlager Prokofjew

■ Gespräch mit der Filmemacherin Lillia Olivier

Erstmalig auf der Berlinale 1994 in Deutschland vorgestellt, zeigt der Film „Die illegitimen Kinder von Anton Webern“ mit extrem leichter Hand, wie die Komponisten Sofia Gubaidulina, die an der Wolga aufwuchs, und Walentin Silwestrow aus Kiew im Hochstalinismus dem Terror gegen ihre an Schönberg geschulte Musikauffassung auszuweichen versuchten. Der flüssig montierte Film trifft sie in der Gegenwart, in der viele ihrer Konzerte international aufgeführt werden.

taz: Weshalb wurde die Musik erst spät von der stalinistischen Gleichschaltung betroffen?

Lillia Olivier: In allen anderen Kunstrichtungen war es der Partei bereits gelungen, die Normen des sozialistischen Realismus durchzusetzen. In den bildenden Künsten beispielsweise taten sich unglaubliche Dinge, am stärksten aber war die Literatur betroffen, während die Musik als letzte drankam. In der Musik wußte man nie so genau, was realistischer Sozialismus eigentlich bedeuten sollte. Die Partei konnte also nicht alles kontrollieren. Die Werke von Schostakowitsch und Prokofjew wurden ja zunächst exportiert. Das war eine enorme Aufwertung und brachte Devisen ins Land. Als wichtigste Komponisten der Sowjetunion genossen die beiden eine relative Freiheit. Das dauerte immerhin bis 1936, als Stalin in der Oper Schostakowitschs „Lady Macbeth von Mzensk“ sah und einen Wutanfall bekam. Danach schlug die Zensur erst richtig zu.

Ihr Film ist eine Mischung aus Porträt und Geschichtsdokumentation...

Eigentlich sollte es einfach ein Porträt zweier Avantgardekomponisten werden. Im Verlauf der Dreharbeiten wurde mir allerdings klar, daß man im Westen kaum etwas von unserem Leben wußte. Hätte ich das totalitäre System, die Behinderungen, die Schwierigkeiten, die Repression von Zeitzeugen beschreiben lassen, wäre alles ins Anekdotische abgerutscht. Also mußte ich neben der Geschichte Silvestrows und Gubaidulinas auch von meinem Land erzählen, von seiner Musikgeschichte, von der Zensur.

Wo fanden Sie das Material?

Ich habe in Moskauer Archiven recherchiert, in die früher sozusagen kein normaler Sterblicher hineinkam. Leider haben die Stalinisten sehr wenig wirkliche Archive hinterlassen. Die verwalten ausgewähltes Propagandamaterial. Nach mühseliger Recherche fand ich schließlich Interessantes unter den Armeefilmen zur Information und Erziehung der Soldaten.

An bestimmten Stellen arbeiten Sie mit Zeitlupe. So bekommt ein Kopfnicken Stalins während einer Parteiveranstaltung eine verhängnisvolle Bedeutung.

Normalerweise arbeitet man für diese Art Dokumentarfilm mit einem Asisstenten, der die gewünschten Ausschnitte in den Archiven zusammensucht. Meistens liefern die Assistenten nur genau das, was man von ihnen verlangt. Als er sah, welche Mühe ich mir bei der Recherche gab, zog er plötzlich diesen Ausschnitt, seinen „Schatz“, hervor. Wenn man diesen Ausschnitt mit normaler Geschwindigkeit abspielt, versteht man nichts. Ich habe ihn mir immer wieder in Zeitlupe angesehen und Stück für Stück rekonstruiert, was da eigentlich passiert. Stalin fixiert Schdanow, bis dieser die Hände hebt und die jubelnden Massen dirigiert. Ein Musikologe ist geboren.

Wie steht es heute um die Bekanntheit von Gubaidulina und Silwestrow?

Beide wurden früher immer durch das Interesse unterstützt, das es im Westen für sie gab. Gubaidulina wurde zum Beispiel von Gidon Kremer „entdeckt“, der ihr „Offertorium“ aufführte. Was die ehemalige Sowjetunion betrifft, gibt es ein paradoxes Phänomen: Als Sofias Musik nicht mehr verboten war, gab es in Moskau auch kein rechtes Interesse mehr für sie. Aber beispielsweise in Jekaterinenburg, einer Industriestadt hinter dem Ural, gibt es jetzt ein großes Interesse für Avantgardemusik. Wir drehten dort auf einem Festival der Werke Silwestrows, zwei Jahre zuvor war Gubaidulina drangewesen, und bei beiden waren die Säle zum Platzen voll.

Sie leben seit einiger Zeit in Paris. Welche Erfahrungen haben Sie während der Dreharbeiten in Ihrer alten Heimat gehabt?

Ich habe das Gefühl, die Leute haben ihre Identität verloren. Fast ein Jahrhundert hat dieses Regime gedauert, und man ist nicht in der Lage, diese Zeit in Ruhe und einigermaßen objektiv zu beurteilen. Ebensowenig hat man eine Vorstellung davon, was der Westen eigentlich ist. Man steht im Bann des Reichtums, der vollen Schaufenster. Im vergangenen Oktober war ich auf einem Filmfestival in Kiew eingeladen. Es findet in einem prächtigen Filmpalast statt, unter technisch exzellenten Bedingungen. Angesichts solcher Projektionstechniken können einige der hiesigen Festivals schlichtweg einpacken. Es handelte sich um ein Festival von Autorenfilmern, kommerziell eher uninteressant. Der Kinosaal war mit 1.200 Plätzen Tag und Nacht überfüllt. Plötzlich tauchte ein technisches Problem auf: Das Objektiv paßte nicht zur Größe der Leinwand. Ich war natürlich sehr nervös und rannte ständig zwischen Vorführraum und Kinosaal hin und her, hinter mir ein Schwarm Techniker. Meine Freunde im Publikum meinten gleich: „Ah, jetzt siehst du endlich, mit was für Problemen wir hier zu kämpfen haben.“ Das ist völlig selbstzerstörerisch. Man verkennt das eigene Potential. Interview: Anke Leweke

Arsenal: „Die illegitimen Kinder von Anton Webern“. Regie: Lillia Olivier. 15.–18.7., jeweils 20 Uhr