Nur alte verdorbene Greise?

■ "Noch Fragen, Genossen!" - Eine Verfallschronik

Fragen sind unbequem und könnten gar die eigene Position ins Wanken bringen. Deswegen: Noch Fragen, Genossen!

Brigitte Zimmermann und Hans-Dieter Schütt haben nun fast fünf Jahre nach dem Zusammenbruch der SED-Bürokratie genau diesen Apparatschiks der Führung der Arbeiterklasse 13 (!) Fragen gestellt. Zehn ehemalige SED-Parteifunktionäre antworteten, von unbekannten kleinen ehrenamtlichen Parteisekretärinnen in Schule oder LPG bis zum ehemaligen DDR-Kulturminister. Das Fazit ist zwiespältig. Kann man den Politprofis, die zum Teil jahrelang im mittleren Führungsbereich des 17-Millionen-Halbstaates tätig gewesen sind, tatsächlich so viel Wirklichkeitsferne abnehmen? Sogar in der eigenen Darstellung der DDR-Lebensverhältnisse war so viel unstimmig, daß man enorm viel Verdrängungskraft aufbringen mußte, um es passend zu machen. Die Interviews berichten von der kleinbürgerlichen Enge der DDR- Gesellschaft, die auch bei den Kadern geherrscht hat. Das ist für einen gelernten Wessi erschreckend: Ein bestimmter Teil der Gesellschaft, eine Partei, nimmt für sich in Anspruch, in praktisch allen Lebensbereichen den richtigen Weg zu kennen. Um dies organisatorisch abzusichern, gibt es hauptamtliche Parteisekretäre in allen Betrieben ab einer bestimmten Größe oder Bedeutung. Nicht ungewöhnlich dann auch, daß ein gelernter Fluß- und Seenfischer Parteisekretär an der Volksbühne in Berlin sein kann oder eine Bildungsstättenleiterin Parteisekretärin in einem Industriebetrieb. Als Erfolg galt konsequenterweise, wenn die Menschen den Vorschlag angenommen haben, den die Partei gemacht hat.

Die Interviews zeigen aber auch Funktionäre, die sich als kritische Gesichter innerhalb der SED-Bürokratie verstanden, die sicherlich auch in der westdeutschen Gesellschaft als engagierte Querschläger ein schweres Leben gehabt hätten. Manche, wie der frühere DDR- Kulturminister und heutige PDS- Abgeordnete Dietmar Keller, bedauern noch heute, nicht Anfang der 80er aus der SED ausgetreten zu sein, als die Nichtreformierbarkeit der angeblich revolutionären Partei offensichtlich war.

Am Ende bleibt das ungute Gefühl, daß viele der Interviewten Erinnerungslücken hatten, wo es um die eigene Teilhabe an der Doppelbödigkeit der DDR-Gesellschaft und an der gesellschaftlichen Ausgrenzung von Oppositionellen ging. Häufige Haltung auch: Lieber bin ich an dieser Stelle, als daß andere, viel Schlimmere meinen Posten einnehmen. Ja; wo sind denn die wirklichen Bösen alle geblieben? Benannt wird kaum jemand. Waren es nur die „alten verdorbenen Greise“ im Politbüro, wie es Wolf Biermann formulierte? Was fehlt im Buch? Ich hätte gern die Antworten der AutorInnen auf ihre den anderen gestellten Fragen gehört. Brigitte Zimmermann war bis 1990 Chefredakteurin der Wochenpost. Welches war Ihre größte Fehlentscheidung, welches Ihr größter Erfolg, Frau Zimmermann? (Frage 10) Jürgen Karwelat

Brigitte Zimmermann, Hans-Dieter Schütt: „Noch Fragen, Genossen!“ Verlag Neues Leben, Berlin 1994, 220 Seiten, DM 24,80