Zwischen den Rillen
: 100 % MTV

■ Telegener Rockstuck für die Supermarktkasse: Stone Temple Pilots und Spin Doctors

Noch keine drei Jahre ist es her seit Nirvanas „Nevermind“ – dem Album, das so ziemlich alle klaren Trennlinien zwischen oben und unten, Kommerz und totaler Ablehnung desselbigen durcheinanderbrachte; und damit einerseits den Rock, wie wir ihn kannten, in Schutt und Asche legte, ihm andererseits aber wieder steinneue Lebensgeister einhauchte.

Daß heute wider Erwarten nicht die vielen neuen, kleinen Nirvanas in Form von Bands wie Magnapop, Seaweed oder Codeine den lukrativen Rahm abschöpften, sondern Bands wie Pearl Jam, Alice In Chains oder Soundgarden, zählt zu den Geheimnissen und Unwägbarkeiten der Popgeschichte.

Nach oben gespült wurde eben nicht nur der wiedererwachte Geist des Punk, sondern – surprise, surprise – der dickfellige Rock-Dinosaurier, die leere Pose, der ganze alte, längst überwunden geglaubte Mist: Rockgniedeleien, Schmocksoli, Raushängenlassereien und anders Säuische, Rolling Stones, Aerosmith... und eben auch diese hutzelige Figur namens Scott Weiland, Sänger einer Band, die sich verwegen Stone Temple Pilots nannte.

Neulich telefonierte ich mit meinem Bruder, während auf MTV die erste Singleauskopplung des zweiten Stone-Temple- Pilots-Albums lief: „Vasoline“. Der Blind Date auf meine Frage ergab geschmackssicher: „typisch amerikanischer Grunge- Scheiß irgendwo zwischen Stone Temple Pilots und Temple Of The Dog“ – wofür es ein Bingo und die Grunge-Gedächtnismedaille gab; und zu „Purple“, so heißt das CD-Machwerk, leider fast schon alles gesagt ist.

Zu hören sind „interessante“ schwere Rocksongs, die sich zäh und langsam durch die Minuten quälen, garniert mit den üblichen gekonnt-instrumentellen Einlagen wie beispielsweise auf „Silvergun Superman“, das mit einem unter normalen Bedingungen großartig zu nennenden Schlagzeugsolo endet.

Aber was heißt hier schon „normal“? Die Umwertung der Umwertung der Umwertung der Werte hat ein Trümmerfeld des Rock-Stucks hinterlassen, der gerade dadurch anwidert, daß er sich damit nicht abfinden kann, mehr sein will als bloßer Schnörkel. So errichtet er sich selbst eine „authentische“ Fassade. Und selbstverständlich fehlen auch nicht ein paar bedächtige und balladeske Schmachtfetzen, die in diesem Sinne typisch traurige Nachdenklichkeit vorgaukeln.

Überflüssig zu erwähnen, daß das Album gut und fett und mit viel Geld produziert (und promoted) ist. Stone Temple Pilots sind 100 Prozent MTV, sie sind die Schablone für genau die Rebellion, die Verweigerung und die „Authenzität“, die über die Bildröhre in die Zimmer der Kids und Twentynothings flimmert. Kostet 29,90, steht neben Gatorade, Wasa, Red Bull und Limbo an der Supermarktkasse und tut keinem was zuleide.

Wenn Fernsehen nicht so ein unironisches 1:1-Medium wäre, man könnte an einen tollen Fake, vielleicht gar eine Grunge-Parodie denken. So bleibt bloß die Erkenntnis, daß Nirvanas „Nevermind“ seine Kinder schon gefressen hat, und wenn sie nicht bei Beck oder Beat Happening landen, dann ist ihr trauriger Weg zum erfolgreichen Grunge-Yuppie vorgezeichnet – Perspektive, Baby!

Unverzichtbarer Bestandteil der Lollapalooza-Gemeinde sind seit geraumer Zeit auch die Spin Doctors, denen man, anders als Stone Temple Pilots et al., etwas mehr an Originalität und Glaubwürdigkeit zugestehen kann. Die Spin Doctors sind so eine Art Grateful-Dead der neunziger Jahre, scharen tatsächlich eine eingeschworene Fangemeinde namens „Spinheads“ um sich, und geben auch manchmal mit einer Horde anderer Bands stunden- bis tagelange Konzerte. Die Spin Doctors erfüllen die Sehnsucht nach dem lebendigen Ereignis, dem totalen Erlebnis, bei dem Band und Publikum eins werden (wollen); Stardom erscheint bei soviel Nähe eher als Phänomen aus anderen Galaxien.

Kein Zufall also, daß das Debüt der Spin Doctors bei seinem Erscheinen im Sommer 1991 zunächst in den Plattenregalen schlummerte; erst zwei Jahre später erwachte es zum großen Renner, als Spontanität und Unberechenbarkeit wieder Konjunktur hatten und ihren Niederschlag in Form von Aha-Erlebnissen, MTV, Hits oder Fritz suchten.

„Turn It Upside Down“, die zweite Doctors-CD, ist der erneute Versuch, Live-Haftigkeit auf Tonträger einzufangen. Was gelingt: Die Songs klingen „improvisiert“, verändern sich, sind mittendrin plötzlich wieder wie neu. Schwer fällt es zuerst, sich einzuhaken oder festzuhören. Der einzige Faden, der sich durch die Songs windet, ist eine leicht penetrante, natürlich lockere, unruhig vibrierende Funkyness, wie sie vor Lichtjahren die Schultern meiner MitschülerInnen auf dem hölzernen Parkett der öko-libertären Landdisco nach unten und oben zucken ließ – damals, in dieser anderen Welt, als Schlaffheit der Gipfel des schülerhaften Glücks war, und man Hippietum nur noch aus den Fotoalben der Eltern kannte. „Big Fat Funky Today“ heißt der erste Song, quasi als Verheißung für das, was den Rest des Albums an Daddeleien aus den Boxen quillt, kurzzeitig unterbrochen von zwei eher ruhigen und sehr schönen Verschnaufpausen.

Auch dies hier also am Ende ein Werk der zwanglos zu genießenden Rockmomente. Wenn du es im Sommer bei offenem Fenster hörst, kann es sogar passieren, daß der (Ex-)Grunge- Nachbar freundlich herübergrüßt und manchmal sogar mit dem Ziegenbärtchen winkt. Gerrit Bartels

Stone Temple Pilots: „Purple“ (EastWest)

Spin Doctors: „Turn It Upside Down“ (Sony)