Böse Macht in gute Hände

■ Fünf Feministinnen aus unterschiedlichen kulturellen und ethnischen Kontexten diskutieren über Demokratie, politische Macht und die Bedeutung von Gemeinschaften

Birgit Rommelspacher: Was bringen wir der Zukunft? Werden wir neue Gemeinschaften schaffen, oder geht der Trend eher in Richtung Individualisierung? Wie sind die Entwicklungen in den feministischen Bewegungen unterschiedlicher Kulturen?

Șirin Tekeli: Die Türkei ist immer noch eine bäuerliche Gesellschaft. Das Patriarchat ist hier wahrscheinlich tiefer verwurzelt als anderswo. Die Dorfgemeinschaft und auch die Gemeinschaft der Barackenstädte, die eine Folge der Landflucht sind, basiert auf der Kontrolle von Frauen, ihrer Körper, ihrer Arbeitskraft und auf dem Frauenideal von Selbstlosigkeit und Unterordnung. Die traditionelle patriarchale Familie ist die wichtigste Kontrollinstanz. Wir müssen die Familie kritisieren, um für eine autonome, selbständige Frauenidentität zu werben. In der türkischen Gesellschaft ist der Individualisierungsprozeß ein Fortschritt. Die feministische Bewegung bietet die Idee einer Interessengemeinschaft aller unterdrückten Frauen an, ob sie nun Intellektuelle oder Arbeiterinnen, Städterinnen oder Landfrauen sind. Sie versucht, Solidarität und Schwesterlichkeit auf einer sehr pragmatischen Ebene zu entwickeln.

Christina Thürmer-Rohr: Gemeinschaften gehen in der westlichen Welt zunehmend verloren. Auch in der feministischen Bewegung sind Gemeinschaften höchst zerbrechliche Gebilde geworden. Wer keinen vorgegebenen Weg vor sich hat, legt sich nicht fest, engagiert sich allenfalls kurzfristig und nicht mit vollem Einsatz. In den westlichen Industrieländern der sogenannten Postmoderne bedeutet Individualisierung kaum noch Individualität, Selbstbestimmung und Mündigkeit; sie ist vielmehr pervertiert zum Egozentrismus, zur Dominanz ichbezogener Interessen.

Gloria I. Joseph: Wenn ich sagen soll, was wir der Zukunft bringen, muß ich dieses „wir“ definieren. Als schwarze Feministin spreche ich aus der Perspektive schwarzer Frauen, vor allem in den USA. Wir teilen kollektiv Erfahrungen und Ideen, die einen ganz eigenen Blickwinkel schaffen. Wir sind in der Lage, diese Erfahrungen zu interpretieren und Theorien zu entwickeln. Wir lernen uns selbst kennen und dadurch die scharze Gemeinschaft und die Gesellschaft besser verstehen. Wenn das erreicht ist, stellt sich die Aufgabe, unserer Gemeinschaft überleben zu helfen. Und wenn ich überleben sage, dann meine ich überleben, das Überleben der Schwarzen. Es gibt so viele soziale Krankheiten, die die schwarzen Gemeinschaften vernichten, und es ist wichtig, sich diesen kritischen Themen zuerst und zukünftig zu widmen.

Șirin Tekeli: Wir haben alle eine unterschiedliche Kultur und Geschichte. Wir reden über verschiedene Entwicklungsstadien. Meine Perspektive ist der Blick aus einem unterentwickelten Land, und dort ist die feministische Bewegung sehr jung. Wir sind jetzt vielleicht an dem Punkt, wo die Westeuropäerinnen vor 25 Jahren angefangen haben. Und wir sind jetzt ähnlich enthusiastisch wie sie damals.

Christina Thürmer-Rohr: Das Wort Gemeinschaft ruft zumindest in Deutschland nicht nur Sehnsucht, sondern auch böse Assoziationen hervor. Es gibt gute Gründe, Gemeinschaften zu mißtrauen. Soziale und politische Kollektive sind nicht nur stärkend für diejenigen, die ihr angehören, sondern zugleich auch ausschließend für diejenigen, die ihr nicht angehören, die nicht genehm, nicht passend, sondern anders sind. Gemeinschaften setzen Gemeinschaftsidentität voraus oder schaffen sie. Diese muß Gegenstand politischer Kritik werden, jedenfalls für die Mitglieder der weißen, westlichen, christlichen Kultur. Statt einer Priorität eigener Gemeinschaften müssen wir eine Öffnung anstreben, die das Ausbrechen aus alten Identitäten, Einheiten, Einbettungen und Gewißheiten verlangt. Für den weißen Feminismus ist das eine Arbeit gegen die Herrschaftsansprüche der eigenen Dominanzkultur nach innen und nach außen.

Gloria I. Joseph: Wenn ich Tina höre, macht mir das klarer als je zuvor, warum es eine schwarze Gemeinschaft gibt und warum es sie geben muß: weil wir aus der Weltgemeinschaft ausgeschlossen worden sind.

Birgit Rommelspacher: Inwieweit kann denn das westliche Modell zum Beispiel für die türkische Frauenbewegung Vorbild sein?

Șirin Tekeli: Die meisten Leute und vor allem viele Frauen streben nach Werten wie Freiheit und Gleichheit, die vor allem westliche Werte sind. Wir hatten regelmäßig autoritäre Regime. Und jetzt wollen die Leute Demokratie. Und wo finden wir das Demokratiemodell? In der westlichen Welt.

Gloria I. Joseph: Wir müssen sehr vorsichtig sein, wenn wir das Wort Demokratie benutzen. Die Vereinigten Staaten nennen sich eine Demokratie und verstecken sich hinter dem Begriff. Sie sind ein kapitalistisches Land und so rassistisch und sexistisch, wie es nur geht. Für mich wäre wahre Demokratie, wenn nicht immer nur die Mehrheit regieren würde. Wenn zum Beispiel fünf Kinder miteinander spielen wollen und drei entscheiden sich für das eine Spiel, die anderen beiden für das andere, heißt das nicht, daß ausschließlich das Spiel gespielt werden muß, für das sich die Mehrheit entscheidet. Es könnte genausogut eine Zeitlang das eine Spiel und dann das andere gespielt werden. Das wäre für mich wahre Demokratie. Aber ich kenne keinen Ort, wo es wahre Demokratie gibt. Wenn Demokratie USA bedeutet, kann ich auf Demokratie verzichten.

Fatema Mernissi: Ich denke, daß dir islamische Fundamentalisten zustimmen würden. Sie erzählen uns, als Moslem kannst du Demokratie nicht wünschen. Ich weiß, daß es schwer ist, das, was wir wollen, zu benennen. Aber du kannst nicht, nur weil du eine Frau bist, das Vokabular ändern, bevor du anfängst, dein Leben zu verändern. Du mußt mit dem arbeiten, was du vorfindest. Du mußt das Wort Demokratie mit seinem historischen und geopolitischen Hintergrund nehmen. Wir sollten den Begriff Demokratie bearbeiten, bis er für uns einen Sinn macht. Wenn wir als moslemische Frauen sagen, daß wir Demokratie wollen, ist das eine Herausforderung.

Gloria I. Joseph: Als schwarze Feministin sehe ich die Welt aus einer schwarzen Perspektive. Und eine schwarze Perspektive betrachtet Demokratie als eine sehr unterdrückerische Daseinsform.

Fatema Mernissi: Was ich an Demokratie schätze, ist, daß sie Vielfalt ermöglicht. Unsere Kultur erlaubt Heterogenität nicht. Und ich kenne nicht viele andere Kulturen, die Heterogenität entwickelt haben. Das war eine geniale Erfindung im Westen, dieser kleine schwarze Kasten, in den du deinen Wahlzettel steckst. Das ist etwas sehr Wichtiges. Aber gut, sagen wir, ich bin bereit, Demokratie wegzuschmeißen – gib mir ein anderes Wort!

Gloria I. Joseph: Ich bin weit davon entfernt, auch nur Vorschläge zu machen, wie ihr gegen eure Unterdrückung ankämpfen sollt. Ich kann dir nur von der Unterdrückung der Schwarzen in den USA erzählen. Und obwohl wir Demokratie haben – so, wie diese manipuliert werden kann, könnten wir sie auch genausogut nicht haben.

Șirin Tekeli: Wenn wir unsere Verantwortung als Frauen und Schwarze nicht wahrnehmen und uns nicht in die politischen Machtinstanzen hineinbegeben, werden wir weder dem Sexismus noch dem Rassismus ein Ende bereiten können. Ich denke, in diesem Punkt hat die feministische Bewegung versagt. Wir haben nicht genug Energie darauf verwandt, uns in politische Entscheidungsprozesse einzuklinken. Wir wissen, daß PolitikerInnen möglicherweise Veränderungen bringen. Denkt zum Beispiel an Gro Brundtland aus Norwegen. Als Vermittlerin hat sie einen Weg für Friedensgespräche zwischen Israel und Palästina eröffnet.

Gloria I. Joseph: Auch die Schwarzen sind durch die Demokratie nicht gelähmt. Wir kämpfen kontinuierlich und haben eine zunehmende Verbreitung schwarzer feministischer Ideen erreicht. Ich denke, das beste Beispiel, das ich für die Zukunft geben kann, ist Ellen Kuzwayo in Südafrika. Sie ist achtzig Jahre alt und Mitglied des neuen Parlaments. Sie spielt eine Rolle im legislativen und exekutiven Entwicklungsprozeß Südafrikas. Gleichzeitig ist sie die leitende Geschäftsführerin von zwei Frauenselbsthilfeorganisationen. Diese sind Graswurzel-Organisationen, wo Frauen lesen und schreiben, nähen, weben, den Aufbau einer selbständigen Existenz lernen können. Das ist eine schwarze Frau, die tut, was Frauen tun sollten. Sie kämpft gleichzeitig auf zwei Ebenen: auf der Graswurzelebene und in den Parlamenten. Das ist das Modell, das wir anbieten können. Aber wann in der Geschichte hat jemals jemand den schwarzen Frauen Aufmerksamkeit geschenkt?

Șirin Tekeli: Es gibt zwei Möglichkeiten, auf die Politik der Parlamente und internationalen Organisationen Einfluß zu nehmen. Zum einen könnten außerparlamentarisch arbeitende Frauen versuchen, Parlamentarierinnen, egal welcher Partei, zu beeinflussen, auch wenn diese keine Verbindung zur feministischen Bewegung haben. Zum anderen könnten wir daran arbeiten, unsere eigenen Kandidatinnen in die Parlamente zu bringen. Es gibt bereits ein Beispiel aus den USA: „Emily's List“. Das ist eine Organisation, die der Demokratischen Partei nahesteht und letztes Jahr gezielt Kandidatinnen unterstützt hat, die feministischen Forderungen aufgeschlossen gegenüberstehen. „Emily's List“ hat Gelder aufgetrieben und Kampagnen durchgeführt und 48 ihrer Kandidatinnen in den Kongreß gebracht.

Birgit Rommelspacher: Es gibt unterschiedliche Entwürfe und Perspektiven und einen unterschiedlichen Optimismus. Wir werden uns auch zukünftig in einem Spannungsfeld bewegen zwischen dem Kampf um mehr politische Macht und der Verpflichtung, gerade auch die eigene Macht stets kritisch zu hinterfragen.

Rearrangiert und aus dem Englischen übersetzt von Sonja Schock