Nach Rot kommt Schwarz in der EU

■ Ein Sondergipfel will heute den Kommissionspräsidenten bestimmen

Brüssel (taz) – Noch am Freitag letzter Woche tönte Bundesaußenminister Klaus Kinkel, daß der Nachfolger für den EU-Kommissionspräsidenten Jacques Delors auch ohne Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs gefunden werden könne. Nach dem Scheitern des EU-Gipfels in Korfu Ende Juni sei er bei seinen Reisen durch die Hauptstädte auf große Entschlossenheit getroffen, die Nachfolgefrage unter den Außenministern zu regeln. „Keine der Regierungen will einen Sondergipfel“, sagte Kinkel.

Das Kanzleramt wußte es längst besser. Schon aus Gründen der Etikette werden die zwölf Häuptlinge heute nachmittag in Brüssel zusammentreffen. Schließlich könnten doch nicht die Presseagenturen die Besetzung des wichtigsten Posten in der Europäischen Union bekanntgeben, hieß es aus der Umgebung von Helmut Kohl. Als Vorsitzende im Ministerrat für das anstehende Halbjahr hat die Bundesregierung die undankbare Aufgabe, einen Kandidaten zu finden, auf den sich alle zwölf Regierungen einigen können.

Der Außenminister hätte sich das Verdienst, einen neuen Kommissionspräsidenten ausgehandelt zu haben, gerne selbst ans Revers gesteckt. Aber es ist nicht das erste Mal, daß Kohl Kinkel eine europäische Entscheidung aus der Hand nimmt und dadurch den Eindruck verstärkt, manche Probleme seien für den Außenminister eine Nummer zu groß.

Über Namen wird in Bonn geschwiegen. Nach dem Eklat von Korfu, bei dem sich einige Regierungen an der Art und Weise gestoßen hatten, wie Paris und Bonn den belgischen Premierminister Jean-Luc Dehaene auf den Thron heben wollten, sind Kohl und Kinkel vorsichtig geworden.

Als aussichtsreichster Kandidat gilt jetzt der luxemburgische Premierminister Jacques Santer. Der christsoziale Santer, der im Fürstentum erst am Mittwoch zum dritten Mal in Folge zum Premierminister ernannt wurde, ist alles andere als ein „leidenschaftlicher Europäer“, wie ihn sich Kohl wünscht, aber er ist farblos genug, um keine wichtigen Feinde zu haben. Selbst John Major, dem ein Euroskeptiker an der Spitze der Brüsseler Behörde am besten passen würde, hat bisher noch nichts gefunden, was gegen Santer spräche. Es gilt allerdings auch als möglich, daß Kohl heute abend doch noch den niederländischen Premierminister Ruud Lubbers herauszieht. Den hat er zwar in Korfu selbst verhindert, weil ihm der belgische Premier Dehaene lieber gewesen wäre. Aber neben Santer wäre Lubbers der leidenschaftlichere Europäer.

Auch der frühere dänische Regierungschef Poul Schlüter ist noch im Gespräch, obwohl Kohl bereits wissen ließ, daß Schlüter nicht sein Wunschkandidat sei. Wie Dehaene, Lubbers und Santer erfüllt auch Schlüter die ungeschriebenen Kriterien, nach denen der neue Kommissionspräsident in etwa das Gegenteil des derzeitigen Amtsinhabers Delors zu sein hat: Er soll Erfahrung als Regierungschef haben, aus einem kleinen Land kommen und konservativ sein.

Eine ganze Reihe von Europaabgeordneten hat, von Korfu aufgescheucht, Bedenken gegen das Verfahren angemeldet. Der Kommissionspräsident dürfe nicht nach der Logik der Abwechslung – nach Rot kommt Schwarz – bestimmt, sondern müsse nach demokratischen Spielregeln gewählt werden. Die Sozialisten, mit 199 von 517 Sitzen stärkste Fraktion in Straßburg, würden wie die Grünen gerne vor und nicht erst nach der Entscheidung der zwölf Regierungschefs gefragt werden. Doch das neue Parlament tritt erst am 19. Juli zusammen. Schon um lästige Diskussionen zu vermeiden, will die Mehrheit der Regierungschefs deshalb die Sache an diesem Wochenende erledigt haben. Alois Berger