Lebbare Vielfalt statt Retro-Tapete

■ taz-Serie 1. Teil: Daniel Gösslers Vorschläge für einen tatsächlich öffentlichen Stadtraum

Einer der wichtigsten Gesichtspunkte, der in der unmittelbaren Zukunft sozial und architektonisch bewältigt werden muß, ist eine höhere Bebauungsdichte. Um den Landschaftsverbrauch zu stoppen, um mit weniger Einsatz von Energie die notwendigen bebauten Flächen zu schaffen, über Jahre zu betreiben und verkehrlich anzubinden, muß die Großstadt enger zusammenrücken. Da sich auch in Hamburg bei einigen entscheidenden Köpfen diese Einsicht inzwischen durchgesetzt hat, wird die Freie und Hansestadt nach der Jahrtausendwende vermutlich wesentlich dichter bebaut sein als bisher, sie wird urbaner aussehen und mit etwas Glück findet sie vielleicht sogar die Gestalt einer Metropole. Doch inwieweit eine solche Stadt zu jeder Tages- und Nachtzeit tatsächlich lebendig und lebbar ist, hängt zuerst von zwei Faktoren ab: der funktionellen Nutzung und der architektonischen Gestalt.

Funktionale Durchmischung für eine vitale Stadt

Die Aufhebung der Nutzungstrennung von Arbeit, Wohnen und Freizeit, die in Dienstleistungsgesellschaften keinen Sinn mehr macht, scheint eine zwingende Voraussetzung für eine zukünftig vitale Stadt. Doch ebenso wie die Bebauungsdichte muß dieses neue Stadtkonzept, das Durchmischung in einem Gebäude wie in einem Quartier gewährleistet und Monokulturen ausschließt, über Bebauungspläne politisch gesteuert werden.

Wenn man nun über die Gestalt derartig multipel genutzter Gebäude nachdenkt, stellt sich als erstes die Frage nach einem möglichen Zusammenhang zwischen dem dann durchmischten Inneren eines Hauses und seiner äußeren Erscheinung.

Eine Generation der Retrobauten

Rem Koolhaas hat schon 1981 in seinem Buch Delirious New York am Beispiel des Rockefeller-Centers in New York die These aufgestellt, daß die innere Komplexität und Funktionsvielfalt derartiger großer Häuser ohnehin nicht mehr an der Fassade darstellbar sei. Daran halten sich Hamburgs Architekten auch im Kleinen.

In der Mode ist dazu in letzter Zeit ein passender Begriff aufgetaucht: Die Bezeichnung „Retro“ beschreibt den bewußten stilistischen Rückgriff auf Moden anderer Zeiten - sozusagen in die Mottenkiste. Dasselbe Phänomen ist nun vermehrt auch in der Bekleidung von Architektur zu beobachten. In Hamburg etwa steht die Generation der neuen Retrobauten unter anderem an der Ost-West-Straße, auf der Fleetinsel oder auf der Kehrwiederspitze.

Und diese Fertigungen scheinen Koolhaas These zu bestätigen, auch wenn er deren Gestalt vermutlich weniger „delirious“ gefunden hätte. Obwohl in ihnen vollkommen unterschiedliche Nutzungen (zum Beispiel: Büros, Kontore, Wohnungen, Hotels und Läden) zu finden sind, stehen sie alle im selben Retro-Kleid da und könnten genauso ganz anders aussehen.

In ihrem Innern ist nichts von der Mentalität, von der Authentizität und der konstruktiven Logik zu finden, die untrennbar verbunden sind mit dem Äußeren. Hamburger Gegenbeispiele zu dieser Haltung wären etwa die Speicherstadt oder das Chilehaus. Die heutigen flexiblen Gipskartonboxen im Stahlbetonraster, in denen alles Platz finden könnte, zeigen dagegen höchstens bei sehr flüchtigem Hinschauen eine Ähnlichkeit mit ihren Vorgängern aus den zwanziger Jahren.

Auch wenn ich selbst Architektur ganz anders betreibe und betrachte, weil ich der Meinung bin, daß Bestimmung und Aussehen eines Gebäudes untrennbar zusammengehören, möchte ich mich einen Moment damit zufrieden geben, Koolhaas These zu akzeptieren. Dann allerdings würde ich auch davon ausgehen, daß die Fassade der Öffentlichkeit gehört und diese darüber bestimmen könnte. Unter diesen Voraussetzungen würde sich der gängige Architekturbegriff umdrehen, denn die Stadtgestalt wäre plötzlich eine öffentliche Angelegenheit.

Eine solche Idealsituation würde bedeuten, daß die Gestaltung des öffentlichen Raums als Wettbewerb ausgeschrieben werden könnte, an dem sich ebenso Künstler, Stadtplaner oder Landschaftsarchitekten beteiligen könnten wie Architekten. Die Straße, der nicht nur visuell am meisten verschmutzte Teil der Stadt (in der Regel durch Autos, Schilder etc.), würde plötzlich integraler Bestandteil der Gestaltung einer Stadt. Und der Spaziergang in der Metropole wäre endlich ein mediales, vielfältiges und dauernd in Änderung befindliches, aber bewußt gestaltetes Ereignis unserer Zeit. Wobei ich auch unter so idealen Umständen ein vehementer Gegner eines einheitlichen Stadtbildes wäre. Um den Anhängern einer scheinbar unschuldigeren Vergangenheit entgegenzukommen, könnte man auch einige Träume der Retro-Kultur realisieren - vielleicht sogar in Backstein.

Die konkrete Vision

Doch dies wird nicht die Realität Hamburgs im Jahr 2000+ sein. Statt aus derartig konzipierten Räumen wird Hamburg ganz prosaisch aus Häusern zusammengesetzt sein, die von Bauherrn bezahlt wurden und die Spuren ihrer Mitbestimmung tragen. Den vielfältigsten Einflüssen und Einsprüchen untergeordnet, werden diese Gebäude Abbild einer multifunktionalen – und hoffentlich auch multikulturellen – Gesellschaft sein. Diese Häuser werden vielleicht verschieden aber wahrscheinlich sehr ähnlich nebeneinander stehen. Im besten Fall, so eine konkrete Vision, werden sie in einer Vielfalt und Qualität entstehen, die einer Metropole entspricht und die einen Spaziergang eventuell noch interessanter machen kann, als er oben beschrieben wurde. Denn im Inneren dieser Häuser könnten spannende Folgen räumlicher Qualität, von Licht und von Materialität die Vielfalt der Stadt bis ins kleinste Detail erweitern.

Auch das Dingliche könnte uns wieder „delirious“ erscheinen, wenn die Virtual Reality endlich funktionierendes Werkzeug wird und nicht Angst- oder Wunschbild der kommenden Gesellschaft. Wir werden erwachsene Materialien schätzen, jedoch nicht mit einer moralischen Ausschließlichkeit und nicht nur als Retro-Tapete.

Schon jetzt läßt sich weiter erkennen, daß zukünftig eine neue Generation von Häusern entstehen wird, die neue Technologien (etwa transparente Wärmedämmung, Serigraphien, Photovoltaik, Windräder, begrünte Fassaden und Dächer etc.) auch gestalterisch anwenden. Auch Zwischenräume zwischen Öffentlichkeit und Privatheit werden eine weit größere Bedeutung bekommen - Fokuspunkte innerer Urbanität, etwa gläserne, öffentlich zu nutzende Hallen, wie beim Vorschlag Jörg Friedrichs für die Ericusspitze.

Doch sind Hamburgs Bauherren im Jahr 2000+ für diese Art von Mäzenatentum schon reif? Werden die Entscheidungsträger der Stadt eine derartige Qualität für die Bewohner von den Bauherren und Architekten fordern? Oder wird man sich darauf beschränken, Wärme- und Schallschutzvarianten wie im Zürichhaus zu beklatschen, die mit ihren klimatisierenden Wintergärten einerseits vorbildlich erscheinen, aber leider nicht öffentlich genutzt werden?

Ein demokratischer Stadtraum?

Um hier zu wirklichen Lösungen im Sinne eines öffentlichen Stadtraumes zu gelangen, müßte eine Architekturkommission - eine Gruppe von Fachleuten, nicht allein Architekten und nicht allein aus Hamburg - demokratisch gewählt und eingesetzt werden, um so den Kampf zwischen Planungs-amtsleitern und Bauausschüssen überflüssig zu machen. Die Arbeit von Fachleuten wäre dann nicht mehr abhängig von den Launen einzelner Planer oder der Laienspielschar aus Parteihonoren im Bauausschuß! Und vielleicht würden dann auch in Hamburg einmal Wettbewerbe zu ersten Preisen führen, die gebaut werden, ohne daß in einem zweiten, dritten oder vierten Verfahren die Qualität bis zur Mittelmäßigkeit verwässert wird.

Betrachten wir also die Architektur mal nicht auf Hochglanzfotos von außen. Wie bewegen wir uns eigentlich in der Stadt? Ist Architektur nicht immer ein Erlebnis in einer Reihe? Bewegt man sich nicht immer von hell nach dunkel, von klein nach groß oder aus einer Backsteinwirklichkeit in eine Alsterwirklichkeit oder umgekehrt? Wechselt nicht immer Enge und Weite, Offenheit und Geschlossenheit, Schönheit und Häßlichkeit, Einheitlichkeit und Vielfalt?

Gerade in diesem Wechsel und in der Vielfalt liegt die urbane Qualität unserer Stadt. Denn was wäre Hamburg im Jahr 2000+ ohne die Reeperbahn, ohne den Hafen, ohne die Subkultur und ohne die Hafenstraße?

Die Normierung bekämpfen!

Nutzungs- und gestalterische Vielfalt muß meines Erachtens die Zielsetzung verantwortlicher Stadtentwicklungspolitik in Hamburg sein. Wir müssen die Normierung bekämpfen und für den jeweiligen Ort Architektur entwickeln - dies auf der Grundlage der Möglichkeiten und Anforderungen unserer Zeit. Architekten müssen mehr und freier entscheiden, durch Fachleute öffentlich beurteilt, nicht durch Ahnungslose.

Doch am Ende dieser Vision bleibt ein dickes Fragezeichen, genährt vom Zweifel an eine lebbare Stadt Hamburg in den Jahren nach der Jahrtausendwende überhaupt, täglich verstärkt durch die Medien und den Blick zurück.