Wand und Boden
: In Kindergärten und auf Motorways

■ Kunst in Berlin jetzt: Ignasi Sumoy, Silvia Ziranek, A. K. Dolven

Stadt und Misere addieren sich offenbar auch in Barcelona zur Summe der neuen Unübersichtlichkeit. So betitelt denn auch der spanische Künstler Ignasi Sumoy gleich mehrere seiner in der Galerie Thomas Carstens ausgestellten Bilder mit „Urban Misery“. Dort lebt der Stadtbewohner, „Citizen“ (1994), als eine stereotype, stachelbewehrte Schablone, die auf vier hochglänzenden Bildtafeln immerhin in wechselnden Farbkompositionen erscheint. Er ist ein Zyklop, sein Kopf im Auge metaphorisiert. Dieses einzelne Auge war in der Kunst des Barock das Auge Gottes: Allgegenwart, Allwissenheit. In einer gewissermaßen niedereren Weise verkörpert der Stadtbewohner diese Tugenden durchaus. Zu Zeiten der französischen Revolution jedenfalls symbolisierte es Jean Paul Marats Behauptung „Ich bin das Auge des Volkes“. Das Volk zeigt in seinen Umrißlinien gezackte Abwehr, während verästelte Blitzformen im Körperinnern seine elektrisierte Befindlichkeit bedeuten: alles ist alarmierte Aufmerksamkeit. Das Auge ist Waffe, seine Farbigkeit auffällig, aggressiv rot oder gelb in einem von grauen und schwarzen Formen beherrschten Umfeld. Dort multipliziert es sich, mutiert auch mal zum Rad.

Auf den grafischen Blättern und im ausgelegten Katalog zeigt sich, daß Ignasi Sumoys städtische Misere vor vier bis fünf Jahren noch einer Comic world angehörte, die man sich unschwer MTV-mäßig animiert vorstellen konnte. Heute ist sie leider unplugged. Das Tafelbild ist Tafelbild und keine Mattscheibe. Auch wenn das graue Gegrissel der TV- Abenddämmerung den Hintergrund seiner Metropolenarbeiten zu bilden scheint. Alles ist sehr statisch, sehr foral, geometrisch, kein bösartiger silver hammer droht mehr unversehens aus dem Hinterhalt.

Bis 30.7., Di-Fr 15-19, Sa 11-14 Uhr, Motzstraße 9, Charlottenburg.

Urbanität ist auch ein Thema von Silvia Ziranek, bei der die städtische Misere vollkommen in pinkfarbenes Plastik eingeschweißt und eingeschlossen ist. Außerdem natürlich vom M 25 London Orbital Motorway. Die Karte der Londoner Ringautobahn flog neben pinkfarbenen Plastikhandtaschen, Miniwimpeln und anderen Gerätschaften dem Publikum ihrer Performances um die Ohren, neben Sätzen wie: „Haben Sie die Wirkungen, die Sie auf Ihre Umgebung ausüben, in Rechnung gestellt?“

Ziraneks Wirkungen auf ihre Umgebung jedenfalls sind unübersehbar. Sie versammelt um sich eine absolut hermetische Welt des Plastikkitsches, die in ihrem schieren Vorhandensein, in ihrer unglaublichen Vielfalt schon eine absurde Komik offenbart und den Schock der Moderne tatsächlich noch einmal rüberbringt. Es ist eine Sechziger-Jahre-Pop- Welt, eine Kindergarten-Welt, auf deren gewissermaßen bonbonklebrigem Boden sich die Künstlerin bewegt und die sie handgreiflich in Bewegung bringt. Naturgemäß hat diese Süße ihre ziemlich zähe Seite, was gerade dann auffällt, wenn Ziraneks Uraufführung „Feet going“ die Ortsveränderung, den Standort und seinen Wechsel, den Ein- oder Ausschluß thematisiert. Silvia Ziranek jedenfalls zwingt einen hinein in die Inner City ihres Babels aus Worten und Gegenständen und Worten über Worte über Gegenstände. Die Karte mit den Ausfallstraßen ist eine Finte. Ein Entkommen aus ihrer totalen Installation aus persönlicher Gegenwart, Stimme, Körper, Kostüm und Raumdekoration ist unmöglich. Davon übriggeblieben sind Fotoarbeiten in der Bildertenne des Literaturforums im Brecht-Haus. Auf die Fototapete einer scheußlichen Ziegelwand sind rosenverzierte Passepartouts geklebt, in denen eine Bilderserie steckt und vor dem immer gleichen Hintergrund die Dinge zeigt, die die Welt nach Ziranek ausmachen: Schuhe, Strumpfpackungen der swinging Sixties, Plastikgeräte wie Schaufel und Besen, Lippenstifte, Arztromane, Strandutensilien. Öde, aber bezwingend.

Fotoarbeiten, bis 30.8., Mo-Fr 9-24, Sa, So 17-24 Uhr, Chausseestraße 125, Mitte.

„Over – Starting“ und wieder „Starting – Over“, das ist der endlose Zirkel, in dem die Bewegung in der Zeit zum Stillstand zu kommen scheint. A. K. Dolven ist ihm in der Galerie Gebauer & Günther nachgegangen, auf großformatigen Tafelbildern und zwei TV-Monitoren.

„A part of a day“ (1994) zieht sich als eine weiße Schwingungskurve über den grauen Bildgrund. Über die ganze Länge des Galerieraums hinweg sieht man die gleiche Form in „Another part of another day“ (1994) als nun silberglänzende Amplitude auf weißem Grund widergespiegelt. Eine Widerspiegelung zeigen auch die Fernsehschirme: im einen ist eine alte Frau im Unterrock zu sehen, im anderen eine junge im Unterhemd. Sie sitzen ruhig, fast bewegungslos, ihre Gesichter sind außerhalb des Bildaussschnitts, der sich nur auf den Oberkörper konzentriert. Die Zeitangabe ist im technisch-exakten Medium des Videos scheinbar präziser gefaßt: „29.12.93 10 minutes 16 mm film“. Aber das ist auch nur ein Teil eines Tages, ein Bruchteil. Die „Yellow Illusion“ gibt durch weiße Farbstreifen, die am rechten und linken Bildrand wie die Falten eines zur Seite gerafften Vorhangs verlaufen, den Blick auf die monochrom zartgelbe Bildfläche frei. Bei „Green Illusion“ verteilen sie sich wie die Streifen einer Markise über den mintgrünen Grund, wenngleich sie den unteren Rand nicht erreichen. In „Without title“ laufen ein babyblauer und ein rosa Streifen auf weißem Hintergrund spitz zu. Es sind subtil gearbeitete Bilder, die Streifen liegen als opakes Material leicht erhaben auf der Leinwand, deren Grundierung in minimalen farblichen Abstufungen changiert. Die Überlagerung auf der Bildfläche wird bei einer Betrachtung aus weiterer Entfernung zum Einschnitt in einen Bildraum, zum Schritt in die Illusion der Tiefe; dann scheinen die Streifen wieder nach vorne in den Galerieraum zu treten. Wie immer man in der Betrachtung ansetzt, die Bewegung des Sehens wird im Zirkel des starting – over, starting – over gefangen.

Bis 30.7., Mi-Sa 14-19 Uhr, Oranienstraße 24, Kreuzberg.

Brigitte Werneburg