Leben auf exterritorialem Gelände

■ Im früheren Botschaftsgebäude der Republik Estland wohnen elf Mietparteien / Mit dem Hauptstadtumzug wollen die Esten die verfallene Villa sanieren und wieder selber nutzen

Das Haus Hildebrandstraße Nummer 5 ist ein Berliner Kuriosum. Inmitten der verwilderten Ruinen- und Naturlandschaft des südlichen Tiergartens wohnen elf Mietparteien auf exterritorialem Gelände. Sie sind Bewohner des früheren Botschaftsgebäudes der baltischen Republik Estland, der es bis zum Jahr 1940 als estnische Gesandtschaft diente. Die alte Villa gibt sich reichlich verkommen. Einschußlöcher in der Fassade erinnern an die „Schlacht um Berlin“. Doch dem Charme des Abgeplatzten können sie wenig anhaben; erst recht nicht den rund zwanzig Bewohnern: darunter Zivilisationsmüde, die diesen Stil pflegen.

Wesentlich mehr Sorgen als die zerbombte Umgebung, der Strich und der Kampf gegen die Vegetation bereitet den Mietern das Bewußtsein, daß die Villa in naher Zukunft den Esten wieder als Botschaft Raum geben soll. „Wir betrachten das Gebäude als eine Verkörperung der Kontinuität unserer Geschichte“, sagt der estnische Botschafter Tiit Matsulevits. Nach der unrechtmäßigen Annexion des Landes infolge des Ribbentrop- Molotow-Pakts vom August 1939 setzt die baltische Republik nun auf die Erneuerung ihrer außenpolitischen Repräsentanz. Matsulevits: „Es ist klar, daß wir das Gebäude sanieren und als Botschaft wieder nutzen.“ Das Haus müsse nicht sofort geräumt werden: Erst wenn das Bonner Außenamt nach Berlin übersiedelt, werden die Bewohner „gebeten“. „Aber wann wird das sein?“, fragt der Botschafter.

Einer der Bewohner ist der Maler Peter Krämer, der seit 1970 sein Atelier im früheren Ballsaal eingerichtet hat. „Natürlich haben wir Angst, hier einmal ausziehen zu müssen“, meint er. Aber Krämer glaubt – im Unterschied zu anderen Bewohnern – an die Zurückhaltung der Esten und setzt auf Zeit. „Das kann noch dauern.“ Schon einmal, nach der Entscheidung des Senats 1988, das Haus unter Denkmalschutz zu stellen und mit viel Geld zu modernisieren, mußten die Mieter mit dem Rauswurf rechnen. Es ist nichts geschehen. „Auch die Esten haben kein Geld, das Denkmal zu sanieren“, vermutet Krämer. Von einer Kündigung ist noch nicht die Rede gewesen.

Das Gebäude selbst zeugt vom Wechsel der Zeiten und seiner Eigner. Das 1878 erbaute, dreigeschossige Haus mußte schon 1885 den ersten Umbau über sich ergehen lassen. 1925 ging die kleine Schokoladenfabrikanten-Villa in den Besitz der Republik Estland über. Im Jahr 1942, die Sowjetunion hatte gerade die Baltenrepublik annektiert, baute „der Hitler“ (Krämer) das schöne Haus zu einem Bürogebäude für das Auswärtige Amt um. „Deshalb sind die Wohnungen so klein, haben kein Bad und keine Innentoilette. Das macht sie so preisgünstig“, sagt Krämer.

Der diplomatische Glanz ging dem Gebäude im Zweiten Weltkrieg verloren. Seine baltische Zugehörigkeit jedoch nicht: Wegen des Viermächtestatus Berlins und weil Großbritannien – in dessen Sektor das Haus lag – die Annexion Estlands nie anerkannte, blieb das Haus in baltischem Besitz. „Wir haben die Miete auch immer auf ein estnisches Konto überwiesen“, schmunzelt Krämer und erzählt, daß der Senat für das Wohnhaus einen „Abwesenheitspfleger“ bestellte, der die Aufgaben des real nicht existierenden Besitzers übernahm. „Und wir haben die Hütte in Schuß gehalten, die meisten Arbeiten und Reparaturen gemacht“, betont der Maler und verweist auf den morbiden Dornröschenschlaf der benachbarten halbverfallenen Botschaften Griechenlands und Italiens.

Wie lange Krämer und seine Mitmieter – Lehrer, Baustoffökos, Psychologen, Lebenskünstler – bei kaputter Zentralheizung zwischen Grün und Straßenstrich, ruhigem Außenseitertum und nächtlichem Vandalismus in der Griechenbotschaft nebenan noch leben können, bestimmt die Umzugsuhr. Darum liegen bei Hausmeister Müller die Nerven blank, der sich aufsässig und brüllend mit der Zukunft auseinandersetzt. „Mit den Esten haben wir uns immer glänzend verstanden“, tobt er und ignoriert die Zeichen des Wandels, die in Form der wilden Natur von allen Seiten an das Haus drängen. Darum schneidet er wie zum Trotz mit der Heckenschere regelmäßig aus dieser das propere Gebäude und eine kleinbürgerliche Kulturlandschaft heraus. Rolf Lautenschläger