Ein Sexualsozialist

Wie Wladimir Schirinowski die sexuelle Revolution in Rußland nachholen will  ■ Von Boris Schumatsky

Eines der Geheimnisse der russischen Seele ist die berühmte russische Liebe: sie ist innig, selbstlos und keusch. „Wir haben keinen Sex“, verkündete eine Parteifunktionärin in einer Talkshow am Anfang der Perestroika. Der westliche Sex ist bekanntlich kalt und seelenlos, die russische Liebe dagegen – warm und rührend. Deswegen war die Liebe ein Grundstein der marxistisch-leninistischen Ideologie: „In unserer sozialistischen Gesellschaft gibt es drei Arten der Liebe. Die einfache eheliche Liebe; ein Überbleibsel des Kapitalismus, die widernatürliche Liebe zwischen zwei Männern; aber die höchste Art der Liebe ist die Liebe zur kommunistischen Partei.“

Die Perestroika hat den Sowjetmenschen dieses Liebesobjekt genommen. Es war eine „Verschwörung gegen die Liebe“, wie die kommunistische Zeitung Sowjetrußland die demokratische Reform nannte. Es ist beklagenswert, daß Freud kein Russisch konnte. Sonst hätte er zweifellos ein Buch über das Triebleben in der russischen Politik geschrieben. Nun mußte sich ein anderer dieser dringenden Aufgabe widmen, kein Psychoanalytiker, sondern ein Politiker – Wladimir Schirinowski, die stolze Blüte des russischen Rechtsradikalismus.

Politische Erotik

Nach Schirinowski gleicht Lenins Oktoberumwälzung einer Vergewaltigung des russischen Volkes. Die Stalinsche Ausrottung von Kommunisten durch ihresgleichen hingegen wäre demnach ein homosexueller Akt. Chruschtschow, der Rivale Stalins, habe stets Lust und Freude ausgestrahlt; was aber das Volk betrifft, so habe es keine Gründe gehabt, Chruschtschows Pläsier zu teilen. Daher sei seine Politik eine Art politische Masturbation gewesen. „Alle spätsowjetischen Politiker, einschließlich Gorbatschow, wollten etwas leisten, schafften es aber nicht ... Genau wie im Fall physischer Impotenz“, sagte Schirinowski in einem Fernsehinterview. Was noch fehlt in der politischen Sexualgeschichte Rußlands, ist ein Politiker, der sich der Abstinenz verschrieben hat: „Um kreativ zu sein“, meint Schirinowski, „braucht jeder Künstler ein Unglück. Ich genauso: um die politischen Prozesse in der Gesellschaft begreifen zu können, mußte ich in jeder anderen Hinsicht zu kurz kommen. Das ständige Gefühl, unbefriedigt zu sein, war das beste Stimulans. Die Politik fordert alle Kräfte.“

Enthaltsamkeit und Erkenntnis

So formuliert Schirinowski sein politisches Credo in dem Buch „Der letzte Marsch nach Süden“. Es ist nicht einfach seine Autobiographie, sondern „die Quintessenz seiner philosophischen und geopolitischen Ansichten“. Mehr noch: ein unersetzliches Lehrbuch in der hohen Kunst der politischen Sublimation: „Hätte ich je ein Mädchen gehabt, so hätte ich wahrscheinlich den Großteil meiner Energie für sie verbraucht. Aber als Siebzehnjähriger war ich sehr schüchtern und scheu. Deswegen sind meine ersten Versuche, mit einer Frau zu schlafen, gescheitert. Einmal legte ich mich mit einem Mädchen hin, sie trug einen Bikini, wir waren gut zueinander, so freundschaftlich. Ich habe sie gebeten, das Höschen auszuziehen. Ich wußte einfach nicht, daß kein Mädchen es selber tut. Ich wußte nicht, daß ich ihr helfen sollte, ich war so schüchtern ...“

Ein Psychotherapeut würde hier vielleicht von einem Trauma reden, aber Wladimir Schirinowski versteht Freud viel besser als westliche Psychoanalytiker – genauso wie Wladimir Lenin viel besser als westliche Revisionisten Marx verstanden hat.

Frauenlose Erotik der Revolution

Es wäre naiv, ja kurzsichtig zu behaupten, Schirinowski sei durch seine sexuellen Pannen psychisch beeinträchtigt. Ganz im Gegenteil. Er hat seinen Trieb mit Erfolg sublimiert: „Ich hatte nie das Gefühl, daß ich meine Frau besonders liebe. Es waren normale eheliche Beziehungen, keine innige Liebe.“ So konnte Schirinowski seine wertvolle libidinöse Energie aufsparen, um sie dort zu investieren, wo sie hingehört: in die Politik.

Die Politik in Rußland ist erotisch. Und die politische Erotik ist die höchste Form der Erotik, wie der Schriftsteller und Revoluzzer Eduard Limonow behauptet. Stolz nennt sich Limonow Nationalbolschewik. In den im Exil geschriebenen Romanen schildert er sehr ausführlich und anschaulich seine vielfältigen hetero- und homosexuellen, bisweilen sadomasochistischen Erfahrungen im Westen. Aber die echte sexuelle Befriedigung fand Limonow daheim in Rußland. Nach der Perestroika kehrte er zurück, um Sicherheitschef im Schirinowskis Schattenkabinett zu werden. Er entdeckte, daß „russische Politik genauso sinnlich und romantisch wie russische Lyrik ist. Wer den Heroismus der Demonstrationen und der Schlächtereien mit den Sondertruppen der Polizei nicht empfindet, wer über die Volksumzüge, Fahnen, Reden, Kampf und Blut nicht gerührt ist, – der ist biologisch minderwertig, ein Stück Seife und kein Mann.“

Ein echter Revolutionär braucht also keine Frauen. Schon die Bolschewiken verzichteten auf die fleischliche Liebe zugunsten der Weltrevolution. Die Autorin des Artikels „Die Verschwörung gegen die Liebe“ suchte vergeblich nach der Definition dieses „keuschen und aufopfernden Gefühls, das in den großen russischen Romanen und Gedichten des 19. Jahrhunderts beschrieben wurde“. Bis sie endlich ein Zitat aus einem der ersten Romane des Sozialistischen Realismus fand, wo ein Rotarmist sagt: „Ich habe mir versprochen, kein Mädchen zu berühren, bevor wir nicht den allerletzten Bourgeois auf dieser Welt um die Ecke gebracht haben.“

Übrigens ist diese höchste Art der Liebe sehr praktisch, weil man bei der gewöhnlichen Liebe nie wissen kann, ob sie erwidert wird. Schirinowski hat dies bei den „Mädchen“ lernen müssen. Ein echter Politiker geht auf Nummer sicher. Er ist – so Schirinowski – „ein Mensch mit kosmischem Denken, oder – zumindest – mit planetarischem Denken“. Kein niedriger Sinnentaumel darf dieses Denken betäuben. Nur unter günstigsten Bedingungen kann man dann eine solche „politologische Entdeckung“ machen wie er, „die neue Verhältnisse in unserer Region schafft und die Weltordnung verändert“, lies: Rußland den Weg nach Süden weist.

Der Krieg als sexuelle Revolution

Schirinowski ist, nach eigenem Bekunden, kein Imperialist. Und ein Faschist erst recht nicht. Zwar findet er „die ursprüngliche Idee Hitlers gar nicht schlecht ... Am Anfang war ja alles ganz ruhig.“ Der Extremist Hitler habe die schöne Idee aber dann verdorben. Doch Schirinowski lernt aus Hitlers Fehlern. Er hat begriffen, woher die Nöte Rußlands kommen: aus dem Süden.

Die schlimmsten sind die Türken. Als Student liebte er sie noch, studierte ihre Sprache und träumte davon, die Türkei zu besuchen. Doch dann haben sie ihn aus ihrem Land geschmissen, unter dem Vorwand, er betreibe kommunistische Propaganda. (Noch eine nicht erwiderte Liebe, wie jene zu „den Mädchen“.) Erst da erkannte Schirinowski ihre wahre Natur: „Die Welt wird es nicht stören, wenn die gesamte türkische Nation untergeht.“

Schirinowski plant keinen Genozid, sondern lediglich eine Verdrängung: Die reine russische Seele soll von den biologisch minderwertigen Südländern befreit werden. „Wie Kakerlaken“ untergraben sie Rußland und „bringen Korruption, Kriminalität und Prostitution mit“. Durch ihre triebhafte Natur hindern sie die echten Männer wie Schirinowski oder Limonow, die höchste Art der russischen Liebe zu praktizieren.

Schirinowski ist kein Nationalist, auf jeden Fall kein Nationalsozialist. Eher ein Sexualsozialist. Er kann Rußland das geben, was Lenin nur versprochen hatte: „In der kommunistischen Gesellschaft wird es genauso leicht, die sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen, wie ein Glas Wasser zu trinken.“ Nun aber glaubt keiner mehr an den Aufbau des Kommunismus. Auch der Sozialismus mit menschlichem Gesicht ist passé. „Man braucht eine neue leitende Idee“, schreibt das Intelligenzlerblatt Nesawisimaja Gaseta in dem Artikel „Sowjetische Gesellschaft im Spiegel der Psychoanalyse“. An Marx' Stelle in der russischen Ideologie rückt ein neuer Prophet, ein anderer Mann mit Bart: Sigmund Freud. Statt Kommunismus will Wladimir Schirinowski einen Sozialismus mit sexuellem Antlitz aufbauen.

Schirinowskis „Marsch nach Süden“ soll nicht nur die Türken wegen ihres Verbrechens gegen die höhere Liebe bestrafen. Auch russische Soldaten werden davon profitieren. Der Krieg wird die sexuelle Revolution sein, die Rußland nie hatte: „Die russischen Soldaten sollen ihre Stiefel im warmen Wasser des Indischen Ozeans waschen, rund ums Jahr Sommeruniformen tragen, leichte Schuhe, kurze Hosen, kurzärmlige Hemden mit offenen Kragen.“ Ihre Körper werden sich befreien; und auf Schirinowski, ihren Herrn, warten indische Schönheiten.

Nehmen wir uns in acht vor dem

Sozialismus mit sexuellem Gesicht.

Michel Foucault