Dreck härtet ab

■ Gespräch mit dem Internisten Aleardo Zoina über Italiens Gesundheitswesen

Zoina, 48, ist Internist und war bis zu einem schweren Verkehrsunfall designierter Leiter der chirurgischen Abteilung eines der größten Kreiskrankenhäuser Mittelitaliens.

taz: Italiens Gesundheitswesen liegt, nicht nur Bürgerklagen zufolge, sondern auch politischen Urteilen nach, völlig im argen; dennoch ist die Lebenserwartung der Italiener auch nicht geringer als die der Deutschen mit ihrer superorganisierten Versorgung, sterben in Italien auch nicht mehr Mütter bei der Entbindung oder Babys nach der Geburt – trotz oft haarsträubender Verschmutzung in den Krankenhäusern und der Unerreichbarkeit der Ärzte an vielen Tagen. Was läßt sich daraus erkennen?

Aleardo Zoina: Daß die medizinische Wissenschafts seit Hippokrates vor zweieinhalb Jahrtausenden kaum etwas dazugelernt hat. Im Ernst: Die Fixierung mancher Länder auf glitzernde, piepsende, hochtechnologisierte Instrumente schadet der Versorgung des Bürgers mindestens genauso wie die Schmiergeldpraxis, die in Italien jeder Einweisung in ein einigermaßen funktionierendes Hospital vorangeht.

Aber ist die Erkenntnis der Wichtigkeit von Hygiene und die Bereitstellung möglichst hochentwickelter, schnell einsetzbarer Instrumente nicht einer der großen Fortschritte des letzten Jahrhunderts?

Ja und nein. Wenn Hygiene zum Selbstzweck wird und der menschliche Körper von Geburt, ja vom vorgeburtlichen Zeitraum an keinen Attacken von „Feinden“ ausgesetzt wird, fällt er dem ersten besten Angriff von Bakterien und Viren ebenso anheim, wie seine Selbstheilungskräfte im Falle einer traumatischen Verletzung nie richtig ausgebildet werden. Länder mit, grob gesprochen, viel Dreck tragen zur Abhärtung bei – das mag man nun als zynisches Abtun einschätzen oder nicht, aber so ist es jedenfalls.

Und zu den High-Tech-Instrumenten: Natürlich mag jeder von uns hochentwickelte Geräte gerne, aber viele davon sind eher Spielzeug denn wirkliches Handwerkszeug. Sehen Sie nur mal die unzähligen Typen von Blutdruckmessern, die heute auf dem Markt sind – man kann sich kaum vorstellen, wieviel Krankheiten durch sie erst so recht entstehen. Die Patienten kaufen sich derlei Dinge, betreiben Selbstdiagnose und schlucken dann tausenderlei Zeug, das ihnen nicht bekommt. Dabei gehen von zehn solchen Geräten sechs mit Sicherheit falsch.

Sachgerechte Anwendung ist natürlich vorausgesetzt ...

Kommt aber in der Regel nicht oft vor, auch bei Ärzten. Sichere Ultraschalldiagnose beherrscht kaum einer, aber viele haben das Gerät in der Praxis stehen – es imponiert und bringt ja auch schön Geld ein.

Haben Sie nicht den Eindruck, daß Krankenhäuser, auch jenseits der eben behandelten Aspekte, schwer kranken?

Natürlich, aber sie kranken nicht an zuwenig Hygiene oder Mangel an Instrumenten. Woran sie kranken, ist eine völlig überzogene und dadurch unfähig gewordene, sich selbst verwaltende Bürokratie, einer Überbesetzung an Arbeitskräften ...

So? Wir haben den Eindruck, daß es gerade an Arbeitskräften mangelt: In den Korridoren und Krankenzimmern drängeln sich doch geradezu die Verwandten von Patienten, die diese versorgen, waschen, füttern, fiebermessen, Zäpfchen einführen ...

Das stimmt schon, aber das kommt nicht vom Arbeitskräftemangel. Die italienischen Krankenhäuser beschäftigen im Durchschnitt pro Patienten eineinhalb mal soviel Personal wie die Deutschen. Doch die meisten davon sind von lokalen Politikern oder Notabeln empfohlen und zu wenig überprüft auf ihre berufliche Tauglichkeit. Unfähige Leute entziehen sich nach Möglichkit dem, was sie eigentlich tun sollten. Dazu kommt ein Hang zum Blaumachen und zur Arbeitsverweigerung, wie sie eher typisch für monotone Industriebetriebe ist. Paradoxerweise hilft dann das innerfamiliäre Fürsorgewesen der Italiener, diesen Zustand aufrechtzuerhalten – gerade weil die Verwandten ganz selbstverständlich beim Patienten bleiben, ganz selbstverständlich die Bettlaken, das Eßbesteck, den Nachttopf selbst mitbringen. Dadurch fühlt sich im Krankenhaus keiner mehr dafür zuständig, erwartet man im Laufe der Zeit, daß alle es so machen. Unfähigkeit wird zum System.

Aber auch ein solches System entwickelt Effizienz. Die in vergleichenden Untersuchungen zutage kommende Gleichwertigkeit des italienischen etwa mit dem französischen und deutschen Arzt trotz wesentlich geringerer technischer Ausstattung kommt gerade daher, daß er sich auf nichts als seinen medizinischen Instinkt und genaue Beobachtung verläßt. Und das ist seit Medizinmanns Zeiten noch immer der beste Ansatz für einen Arzt. Interview: Werner Raith, Rom