Tausche Geld gegen Gesundheit

Wer in Rußland wieder gesund werden will, muß tief in die Tasche greifen  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

„Wenn sie dich umsonst behandelt haben, dann war die ganze Behandlung umsonst.“ Dieser Satz, geprägt noch zu Zeiten des angeblich für alle einheitlichen und für alle unentgeltlichen sowjetischen Gesundheitswesens, hat in der gegenwärtigen Übergangszeit noch an Gültigkeit gewonnen. In den letzten beiden Jahren erhielten die RussInnen viele neue Möglichkeiten, sich heilen zu lassen. Voraussetzung ist allerdings, daß der Rubel rollt. Sei es für eine traditionelle Behandlung in den hygienisch gefährlichen und mit Medikamenten unterversorgten städtischen Krankenhäusern oder für früher Undenkbares wie zum Beispiel der Stationsgeburt bei Kerzenlicht und Wunschmusik oder dem modernen Routine-Check-up in der einst berüchtigten Kreml- Klinik der 4. Abteilung.

Vor allem die zur ambulanten Behandlung gedachten Polikliniken in den Bezirken stehen noch jedermann und jederfrau offen. Aber wer hier das Glück gewinnen möchte, das wir aus der Gesundheit schöpfen, muß meist – genau wie früher – selbst mit den ÄrztInnen bekannt oder verwandt sein oder unter der Hand doch wieder dazuzahlen.

Die Tageszeitung Komsomolskaja Prawda startete neulich eine Umfrage zum Gesundheitswesen und erkundigte sich unter anderem bei ihren LeserInnen, wieviel Geld sie unter Ausnutzung aller Möglichkeiten – wie etwa Freunde anpumpen, Schmuck verkaufen – innerhalb einer Woche aufbringen könnten, falls sie dringend operiert werden müßten. Immerhin 38 Prozent der gesunden und 26 Prozent der kranken LeserInnen schätzten diese Summe von 500.000 bis zu einer Million Rubel (etwa 415 bis 830 Deutsche Mark). Angesichts eines Durchschnittsmonatseinkommens von 150.000 Rubel eine gewaltige finanzielle Last. Sogar über eine Million Rubel hofften über ein Drittel der gesunden Befragten, aber nur noch 16 Prozent der Kranken zusammenkratzen zu können. Immer mehr RussInnen sorgen für den Krankheitsfall vor, solange sie noch gesund sind. Seit 1992 sind zweihundert private Versicherungsgesellschaften wie Pilze aus dem russischen Boden geschossen. Jede Gesellschaft bietet ihren Kranken eine Liste von Vertrags-Adressen, an die sie sich zur Behandlung wenden können.

Die größten Versicherer haben die bisher internen Kliniken bestimmter Behörden, die teuren, aber modern ausgerüsteten medizinischen Zentren der Regierung und der Akademie der Wissenschaften schon unter sich aufgeteilt. Den Abschluß einer Krankenversicherung kann sich in Rußland vorerst nur eine kleine Elite unter den Privatpersonen leisten. Daß die Versicherungsgesellschaften auf eine erstaunlich breite soziale Basis zurückgreifen, liegt vor allem an den Unternehmen. Ein Drittel von ihnen hat bereits zu günstigen Pauschalbedingungen Versicherungskontrakte für seine Beschäftigten abgeschlossen. Entgegen kommt den Direktoren dabei das Gesetz.

Obwohl noch wenige Regelungen auf diesem Gebiet existieren, haben die russischen Parlamentarier doch schon beschlossen, daß auch in diesem Lande Versicherungsbeiträge steuerfrei sein sollen. Viele russische Versicherungsgesellschaften erstatten zudem bei Nichtinanspruchnahme von Leistungen die gesamte vom Versicherten investierte Summe. Bei einem Land mit noch immer relativ hoher Inflationsrate – in diesem Jahr soll sie monatlich acht Prozent betragen – zahlen die Versicherten allerdings auch in diesem Falle noch drauf. Aber die Tatsache, daß diese Investition überhaupt zu ihnen zurückkehren kann, schützt BürgerInnen und Unternehmen doch ein wenig vor dem Verarmen.

Inzwischen bleiben die RussInnen seit 1992 etwa gleich krank. Dies gibt Anlaß zum Optimismus, wenn man davon ausgeht, daß die staatliche Aufsichtsbehörde für Sanitäres und Epidemien seit Mitte der achtziger Jahre eine stete Verschlechterung der Volksgesundheit verzeichnet hatte. Natürlich spielte dabei die Ernährung eine Rolle. Heute bekommen die russischen BürgerInnen im Durchschnitt 25 Prozent zuwenig Eiweiß und 50 Prozent zuwenig Vitamine. Viele Nahrungsmittel entsprechen nicht den hygienischen Anforderungen.

Geschwächt wird die Gesundheit auch durch die himmelschreiende Vernachlässigung der Umwelt. In dem ganzen Riesenreich gibt es nur zwei Müllverbrennungsanlagen. Wilde Halden, auch für Giftmüll, sind an der Tagesordnung. Unter gesundheitsschädigenden Arbeitsbedingungen leiden mehr als fünf Millionen Menschen. In 84 Städten übersteigt die Luftverschmutzung die zulässigen Grenzwerte um das Zehnfache, in neun Städten sogar um das Fünfzigfache – kein Wunder bei den Rußfahnen und Ölwolken, die russische Motor-Vehikel ausstoßen. Die Zahl der Infektionskrankheiten insgesamt ist in den letzten beiden Jahren leicht zurückgegangen. Im Vormarsch ist darunter allerdings die Diphterie, 1993 forderte sie 388 Tote. Auch Geschlechtskrankheiten haben um das Zwei- bis Dreifache zugenommen. Natürlich zieht die Statistik hier eine Grimasse. Viele Menschen sind heute besser aufgeklärt als noch vor wenigen Jahren und haben weniger Hemmungen, mit derartigen Erkrankungen medizinische Hilfe zu suchen. Auch die Sucht der russischen MedizinerInnen, einmal für krank Erklärte möglichst nicht mehr aus den Krallen zu lassen, dürfte mit zunehmendem Effektivitätsdruck nachlassen.

Noch immer werden Mann oder Frau von ein und demselben Leiden in einer russischen Klinik zwei- bis dreimal so lange kuriert wie in Mitteleuropa. Dabei stehen pro Kopf doppelt so viele ÄrztInnen und Krankenhausbetten zur Verfügung. Um Leerstand zu vermeiden, wird der Aufenthalt des Patienten im Hospital vom Personal gerne in die Länge gezogen. Von einem Extremfall erfuhr die Komsomolskaja Prawda bei ihrer oben erwähnten Umfrage: Ein ganzes Jahr lag die Moskauerin Marija Filippowna im Ersten Städtischen Krankenhaus – wegen einer harmlosen Blinddarmoperation!

An Selbstbewußtsein mangelt es dem Personal dieses medizinischen Wunderlandes nicht. Es gibt fast niemand, der hier noch nicht den klinischen Kasernenton am eigenen Leibe erfahren hätte. So sagte man einer der befragten LeserInnen zum Abschied im Krankenhaus: „Bedanken Sie sich, daß wir Ihnen nicht geschadet haben. Und wagen Sie ja nicht, sich irgendwo zu beschweren – dann wird's Ihnen noch schlechter gehen!“