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O. J. Simpson, ehemals „Mr. Nice Guy“

Warum US-Senatoren und Millionen ihrer Landsleute für einen Footballstar beten, der im Verdacht steht, seine Ex-Frau ermordet zu haben / Verständnis für gewalttätige Männer im Macho-Sport  ■ Von Andrea Böhm

Der Zeuge ist Gerichtsmediziner. Er hat in seinem Leben Hunderte von Leichen untersucht – und ganz zwangsläufig eine gewisse Abgebrühtheit entwickelt. Folglich wirkt er auch ziemlich nüchtern, als er die Todesursache der beiden Mordopfer erklärt, dann mit einem roten Filzstift auf einer Skizze die 17 Stichwunden einzeichnet, an denen in der Nacht des 12. Juni Ronald Goldmann gestorben ist und den zwölf Zentimeter langen Schnitt markiert, der die Kehle von Nicole Brown Simpson durchtrennt und ihren Tod „herbeigeführt“ hat. Der, der im Verdacht steht, ihn „herbeigeführt“ zu haben, saß bislang stoisch, mit manchmal resigniertem, manchmal enerviertem Gesichtsausdruck, auf seinem Stuhl. Aber jetzt wird er unruhig – und darauf haben die Kameraleute im Strafgericht von Los Angeles gewartet: Sie ziehen das Gesicht des Hauptdarstellers in diesem Gerichtssaaldrama per Nahaufnahme heran – und lauern: auf ein Schluchzen, zusammengepreßte Lippen, eine schmerzverzerrte Miene oder wenigstens ein paar Muskelzuckungen. O. J. Simpson, Ex-Footballstar, Werbeträger, TV-Schauspieler, Sportkommentator, Nationalheld und seit kurzem des zweifachen Mordes verdächtigt, rutscht unruhig hin und her, die Augen gerötet – doch bevor die ersten Tränen zu sehen sind, schirmt der Anwalt seinen Mandanten gegen die Kameras ab. Live dabei: ABC, CBS, NBC, CNN, Fox-Television und Court-TV.

Dies war noch nicht der Prozeß. Der beginnt nächsten Freitag mit der Verlesung der Anklage. Juristisch betrachtet hatte die Richterin letzte Woche in der Anhörung nur zu entscheiden, ob die Staatsanwaltschaft genügend Beweismaterial vorbringen kann, um gegen O. J. Simpson den Prozeß zu eröffnen. Sie davon zu überzeugen, war angesichts der erdrückenden Last von Indizien gegen den 47jährigen ein leichtes. Doch der eigentliche Kampf mit der Verteidigung war nicht für das Gericht, sondern für die Fernsehkameras bestimmt: Staatsanwältin Marcia Clark mußte ein Idol vom Sockel stoßen und demonstrieren, daß O. J. Simpson ein Mensch und somit zu allem fähig ist. Robert Shapiro, Starverteidiger und Autor eines juristischen Fachaufsatzes mit dem Titel „Die Medien zum eigenen Vorteil nutzen“, wollte eben dies verhindern.

Draußen, im Lande, wurde unterdessen gebetet – nicht für die Toten, sondern für O. J. Simpson. Selbst auf dem Kapitol in Washington falteten die Senatoren die Hände: „In unserem Herzen sind wir bei ihm ... Unser Land ist erschüttert durch den Sturz eines großen Helden.“ Prominente Freunde aus der Sport- und Entertainmentszene beteuerten, wie gutmütig und zuvorkommend Simpson zu jedermann gewesen sei. Seine ehemaligen Teamkameraden von den „Buffalo Bills“ und den „San Francisco 49ers“ beschworen seine Genialität auf dem Spielfeld und seine Bescheidenheit vor den Fernsehkameras. Kollegen des Fernsehsenders NBC, für den er zuletzt als Kommentator gearbeitet hat, lobten sein Charisma und seine Bereitschaft, sich jederzeit an jedem Ort einsetzen zu lassen. T-Shirts mit dem Aufdruck „Free O. J.“ fanden reißenden Absatz; die schwarze Bürgerrechtsorganisation „National Association For The Advancement Of Colored People“ (NAACP) meinte, Simpson vor dem Rassismus der US- amerikanischen Gesellschaft beschützen zu müssen und klagte, der Star werde einem „Hightech- Lynching“ ausgesetzt. Khalil Muhammad, jener Vertreter der „Nation of Islam“, der regelmäßig durch antisemitische und homophobische Haßtiraden Schlagzeilen macht, rief alle schwarzen Männer auf, ihren „Bruder“ O. J. zu verteidigen, „obwohl er mit dem Feind geschlafen hat“. Gemeint ist Nicole Simpson, eine weiße Frau.

Was Khalil Muhammad in seiner afrozentrischen Borniertheit so ärgert und den Vorwurf des „Hightech-Lynchings“ seitens der NAACP so absurd macht, ist der Umstand, daß O. J. Simpson von Weißen wie Schwarzen gleichermaßen verehrt und vergöttert wird. Nicht nur, weil der schwarze Junge aus einem „housing project“ in San Francisco als der beste „running back“ in der US-Footballgeschichte den Auf– und Ausstieg aus dem Ghetto geschafft hat. O. J. Simpson, schrieb die schwarze Autorin Meri Danquah, „hat mehr als jeder andere schwarze Star oder Held die Idee, den Traum, die Illusion verkörpert, daß wir als Nation die Trennung der Rassen überwunden haben.“

O. J. Simpson, das war „Mister Nice Guy“, der – außerhalb des Football-Feldes – nur ärgerlich wurde, wenn er sich dabei ertappte, in den schwarzen Slang aus seinen Jugendzeiten zurückzufallen. Einer, der mit seiner weißen, blonden Frau und zwei Kindern perfekt in die scheinbar farbenblinde Schickeria Kaliforniens hineinpaßte; einer, der seine eigene Hautfarbe für völlig unwichtig erklärte. „Simpson wurde als unbedrohlich für Weiße empfunden“, schrieb die größte Sportzeitschrift der USA, Sports Illustrated. Was die Autoren nicht aussprachen: Simpson wirkte so unbedrohlich, weil er einer weißen Öffentlichkeit alle Schuldgefühle gegenüber Schwarzen abnahm. Am schnellsten begriff das nach seinem Rücktritt vom aktiven Sport 1979 die Werbeindustrie: O. J. Simpson war der erste Schwarze, der in Werbespots auftrat, die sich nicht an eine schwarze Zielgruppe richteten.

Bis zu jenem 17. Juni 1994, als er, von der Polizei und unzähligen Kamerateams verfolgt, über die Autobahn von Los Angeles fuhr, kannte ihn die Öffentlichkeit als Vertreter für Mietwagen der Firma „Hertz“, als Kommentator von Olympischen Spielen, als Schauspieler in Hollywood-Filmen wie „Naked Gun“. Daß solch ein Mann seine geschiedene Frau in ihr Haus verfolgt, ihr die Kehle durchschneidet und einen zufällig anwesenden Bekannten brutal ersticht – das mochte Amerika im ersten Akt des Simpson-Dramas einfach nicht glauben.

Dann begann der Sockel des Denkmals doch zu bröckeln.

Auf Drängen der Medien gab das „Los Angeles Police Department“ die Tonbandaufnahme eines Notrufs vom 25. Oktober 1993 heraus, die in den folgenden Stunden und Tagen wieder und wieder von den Fernsehstationen abgespielt wurde. Zu hören ist die Stimme von Nicole Brown Simpson. Im Hintergrund das Gebrüll eines Mannes, O. J. Simpson. „Können Sie sofort jemanden nach 325 Gretna Green schicken“, ruft sie. „Er dreht gerade durch.“

In dieser Nacht hatte O. J. Simpson seine mittlerweile geschiedene Frau Nicole Brown Simpson nicht geschlagen, sondern „nur“ die Tür ihres Haus eingetreten. Doch im Zuge der akustischen Dokumentation dieses Wutausbruchs kam plötzlich an die Öffentlichkeit, daß Nicole Brown Simpson im Verlauf der siebenjährigen Ehe mindestens acht Mal die Polizei gegen ihren Mann zu Hilfe rief.

Diese Fakten waren kaum an die Öffentlichkeit gedrungen, da registrierten Frauenhäuser in allen Teilen des Land einen rapiden Anstieg von Notrufen. Frauen, die jahrelang aus Angst und der Hoffnung auf bessere Ehetage stillgehalten hatten, meldeten sich nun in Notrufzentralen. Auch Beratungsstellen für gewalttätige Männer verzeichneten plötzlich eine steigende Zahl von Rat-und Hilfesuchenden: Männer, die angesichts des Verdachts, daß aus dem prügelnden O. J. Simpson ein mordender O. J. Simpson geworden war, Angst bekommen hatten – vor sich selbst und dem, was sie anderen antun können. Aus dem Sex-and-Crime- Drama um einen amerikanischen Helden war in den Medien plötzlich ein gesellschaftskritisches Thema geworden: Gewalt gegen Frauen.

Vier Millionen Frauen werden nach Angaben der „American Medical Association“ jedes Jahr von ihren Partnern tätlich angegriffen. 4.000 Frauen, so die „National Coalition Against Domestic Violence“, sterben jedes Jahr an den Folgen von Mißhandlungen durch ihre Ehemänner oder Freunde. Gerade wenn sich Frauen zum entscheidenden Schritt – zur Trennung oder zu einer neuen Beziehung – durchgerungen und möglicherweise auch noch ein gerichtliches Hausverbot gegen den Mann durchgesetzt haben, leben sie am gefährlichsten: Dieser definitive Macht- und Kontrollverlust über „ihre“ Frauen, sagen Experten übereinstimmend, läßt manche Männer zu Mördern werden. Auch O. J. Simpson hat laut Zeugenaussagen, nachdem Nicole Brown Simpson die Trennung für endgültig erklärt hatte, kundgetan: „Wenn ich sie nicht haben kann, kriegt sie keiner.“

Daß Simpson seine Frau schlug, war in all den Jahren kein Geheimnis: die Polizei wußte es, die Presse wußte es, NBC, Hertz und Hollywood wußten es. „Hätte O. J. Simpson neun Mal A. J. Cowlings (Jugendfreund und Teamgefährte von Simpson, der ihn auf seiner bizarren Flucht über die Autobahn chauffierte, d. Red.) zusammengeschlagen“, sagt Mariah Burton Nelson, Autorin des Buches „The Stronger Women Get, The More Men Love Football“, „dann hätte er der Polizei nicht weismachen können, dies sei eine Familienangelegenheit. Und NBC und Hertz hätten ihn fallenlassen und gesagt: ,Der Mann hat ein fürchterliches Problem‘.“ Aber es störte niemanden. Simpsons Gewalttätigkeit in der Ehe war eine kleine Schattenseite in einem sonst perfekten Leben.

Wenn es um sexuelle Gewalt geht, ist dieser Prominentenbonus nicht allein auf Sportler beschränkt: Kaum ein Jazzfan hat sich je daran gestört, daß Miles Davis in seiner Autobiographie ganz nonchalant erzählt, wie er mehrmals aus seiner Frau Cicely Tyson „die Scheiße herausgeprügelt hat“, weil ihm ihre Bekannten nicht paßten. Kaum ein Rockfan stört sich daran, daß Axl Rose, Star der Gruppe „Guns N'Roses“, sowohl von seiner Ex-Frau Erin Everly, die er mindestens einmal krankenhausreif geschlagen hat, als auch von seiner Ex-Freundin Stephanie Seymour der mehrfachen Körperverletzung beschuldigt wird.

Doch nirgendwo in der amerikanischen Gesellschaft, meint Mariah Burton Nelson, wird gewalttätigen Männern so viel Nachsicht, Verständnis und oft sogar Bestärkung zuteil wie im Sport – vor allem in den Machosportarten Football und Basketball. Für viele Trainer, vor allem von Schul- und Collegemannschaften, ist es immer noch üblich, ihre Spieler nach schlechten Leistungen als „Mösen“, „Votzen“ oder „Tunten“ zu beschimpfen; um schwache Spieler zu demütigen, deponieren manche Trainer Tampons, Damenbinden und Büstenhalter in ihren Schließfächern. Bobby Knight, einer der populärsten und autoritärsten College-Basketballtrainer in den USA riet der Journalistin Connie Chung – und allen Frauen – in einem Interview, sie sollten, wenn ein Vergewaltiger nicht mehr abzuwehren ist, „sich entspannen und die Sache genießen“. Und als Joe Paterno, Coach der Football-Mannschaft der „Penn State“-Universität, nach einem verlorenen Spiel ankündigte, er gehe jetzt nach Hause und verprügele seine Frau, da gab es zwar öffentlichen Protest, doch Paterno rechtfertigte seinen „Witz“ als ganz normalen „Bestandteil der Sportkultur“.

Vor diesem Hintergrund verwundert es kaum, daß laut einer Studie des Journal For Interpersonal Violence Football- und Basketballspieler am ehesten zu sexistischen Aggressionen neigen – von der verbalen Anmache bis zur Vergewaltigung. Gewalt gegen Frauen, sagt Sam Hamilton, Ex- Footballprofi der „Washington Redskins“, sei für Athleten etwas Selbstverständliches. „Als Athlet glaubst du, du hast ein Verfügungsrecht. Was immer du haben willst, kriegst du.“

Doch trotz der traurigen Aktualität hat Nelson Burtons Buch, das kurz vor dem „Fall Simpson“ erschienen ist, in der Debatte bislang keine Rolle gespielt. Einen Nationalhelden zu stürzen, dazu ist man bereit. Doch der Nationalsport bleibt unangetastet.

Das Fernsehdrama des O. J. Simpson findet am nächsten Freitag seine Fortsetzung. Dann wird die Anklage verlesen – und die Staatsanwaltschaft muß entscheiden, ob sie dem Drama einen weiteren, sehr amerikanischen, Höhepunkt hinzufügen will: Die Ankündigung, im Prozeß gegen Orenthal James Simpson für die Todesstrafe zu plädieren.

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