Ein Register zur Krebsbekämpfung

Politiker streiten über die Einführung einer flächendeckenden Erfassung aller Krebserkrankungen  ■ Von Klaus-Peter Görlitzer

Krebs ist nach Herz-Kreislauf- Erkrankungen die zweithäufigste Todesursache in Deutschland. Jedes Jahr, so schätzen Wissenschaftler, erkranken hierzulande rund 300.000 Menschen an bösartigen Tumoren. Grund genug, endlich politisch zu handeln. Und nun das: Der Bundesrat blockiert eine politische Initiative – das „Gesetz über Krebsregister“. Für den Bundesgesundheitsminister Anlaß, mahnend den Finger zu erheben: „Das für die Krebsbekämpfung entscheidende Ziel“, so Horst Seehofer, werde „in Deutschland nicht erreicht werden können“, wenn die Länderkammer die flächendeckende Registrierung verhindere. Schließlich verheißt Paragraph 1 des Gesetzes, „bösartige Neubildungen“ zu bekämpfen und ihre Ursachen zu erforschen. Daß dies Sinn und Zweck von Registern sei, verbreiten seit Jahren nicht nur die Regierungsparteien, sondern auch die SPD-Opposition im Bundestag – allerdings ohne dabei ins Detail zu gehen.

Tatsächlich lassen sich mit Registern Krankheitsursachen weder herausfinden noch nachweisen. Die meisten Krebsarten haben sehr lange Latenzzeiten, das heißt: Wenn die „Neuerkrankung“ erfaßt wird, liegen die Ursachen schon Jahre oder Jahrzehnte zurück. Auch ein neu auftretendes Risiko, etwa ein krebserzeugender Arbeitsstoff, kann in der Datenflut leicht untergehen, vor allem, wenn der Risikofaktor nur auf wenige der erfaßten Patienten, etwa Beschäftigte einer Fabrik, einwirkt. Je verbreiteter ein Tumor ist, zum Beispiel Lungenkrebs, desto unwahrscheinlicher ist die Identifizierung eines neuen oder wenig verbreiteten Verursachers – „Überdeckungsphänomen“ nennen das Fachleute.

Gleichwohl wurde in der Gesetzesdebatte unermüdlich die angebliche „Alarm- und Signalfunktion“ der Datenbanken beschworen. Typisch ist die Mutmaßung von Sabine Bergmann-Pohl (CDU), Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesgesundheitsministerium: „Krebsnester, also besonders oft auftretende Erkrankungen an bestimmten Orten, sind leichter zu entdecken.“

Gerät ein Gebiet aufgrund der Zahlen unter Verdacht, kann es Arbeit und Aufträge für Epidemiologen geben – vorausgesetzt, der politische Wille und die finanziellen Mittel sind vorhanden. Solche Untersuchungen füllen – auch ohne Krebsregistrierung – längst Bibliotheken. Veranlaßt wurden sie aber meist nicht von Politikern und Behörden, sondern von Bürgern und Ärzten, die beunruhigt waren über Krebshäufigkeiten in ihrer Nachbarschaft – vermutete Ursachen: Schadstoffe aus Industrie und Sondermülldeponien, radioaktive Strahlung von Atomkraftwerken. Mal bescheinigte ein Gutachter, daß es nahe der vermuteten Krebsquelle eine erhöhte Leukämierate gebe – wie im Fall der niedersächsischen Sondermülldeponie Münchehagen. Mal stellte ein anderer nichts Auffälliges fest – so der Erfinder des Registrierungsmodell, der Mainzer Epidemiologe Jörg Michaelis. Seine Berechnungen ergaben, daß Kinder, die in der Nähe von Atomkraftwerken wohnen, nicht überdurchschnittlich oft an Krebs erkranken.

Politische Taten bleiben nach Präsentation einer Studie in der Regel aus. Statt dessen folgt gewöhnlich ein Expertenstreit. Michaelis führte ihn im Falle seines AKW-Gutachtens mit einem bemerkenswerten Argument: „Es ist allgemein bekannt“, so der einflußreiche Epidemiologe, „daß epidemiologische Studien, insbesondere solche mit dem von uns gewählten ökologischen Ansatz, niemals beweisen können, daß ein interessierendes Risiko nicht vorhanden ist.“ Und der Bremer Eberhard Greiser, der für die Münchehagen-Studie verantwortlich zeichnete, kommentierte seine Ergebnisse so: „Dies läßt nun aber überhaupt keine Schlüsse darauf zu, ob die Nähe zur Deponie und etwaige von dort ausgehende Emissionen ursächlich zur Neuerkrankungshäufigkeit beigetragen haben.“ Zwecks Klärung müsse möglichst jedem Einzelfall nachgegangen werden – mit weiteren Untersuchungen.

Einzelfallstudien wurden bisher auch ohne Krebsregister angefertigt. Trotzdem würden Krebsregister Einzelfallstudien „wesentlich erleichtern“, gibt die Bundesanstalt für Arbeitsmedizin zu bedenken. Durch den Abgleich von Expositionsdaten mit dem Register, so die Mediziner, könne genauer als bisher abgeschätzt werden, wie hoch das Tumorrisiko sei für Arbeiter, auf die Dioxine, Furane, Schwermetalle und Dieselmotor- Emissionen einwirken – Menschen als Bioindikatoren.

Derartige Forschungsprojekte zielen offensichtlich nicht darauf, Krebsursachen zu beseitigen. Vielmehr geht es darum, den Streit um Giftmengen, die noch zumutbar sein sollen, zu verwissenschaftlichen. Mit diesem „Vorbeugekonzept“ verträgt sich, daß in deutschen Betrieben rund 200 Stoffe verwendet werden dürfen, die eindeutig krebserzeugend oder hoch krebsverdächtig sind. Dabei ist unbestritten, daß es keine harmlose Dosis gibt – zumal sich die Wirkungen verschiedener Krebserreger summieren und vervielfachen können.

Ein Verbot dieser Substanzen wäre ein politischer Beitrag zur „Krebsbekämpfung“, den wohl auch jeder Laie verstehen könnte. Doch die Beseitigung von Risiken, die längst bekannt sind, steht in Bonn ebensowenig auf der Tagesordnung wie die systematische Verringerung von Schadstoffen. Statt dessen werden Gefahren heruntergespielt und individualisiert. „Anders als vielfach vermutet“, behauptet etwa der SPD-Gesundheitsexperte Horst Schmidbauer im Bundestag, „bewirken Umwelteinflüsse nur zwei bis fünf Prozent aller aufgetretenen Krebserkrankungen. Das Gros der Krebserkrankungen wird durch eigene Verhaltensmuster beeinflußt.“ Sein Therapierezept lieferte Schmidbauer gleich mit: „Angesichts dieser Tatsache sind die Krebsregister zu einem integralen Bestandteil der Gesundheitsaufklärung zu machen wie in Skandinavien.“