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„Wir kennen den Weg im Schlaf"

Vor dem niedersächsischen Atommüllager feierten die Atomkraftgegner die einstweilige Absage der Castor-Transporte und ihre Wiederauferstehung  ■ Aus Gorleben Gabi Haas

Egal, ob es nun 800 waren oder 1.000 – auf jeden Fall waren sie alle wieder da: die Bürgerinitiativler der ersten Stunde, die Initiative 60, deren Mitglieder längst alle die 70 überschritten haben, die Schüler aus Lüchow und Dannenberg, die Freien Wenden und die Bewohner des Hüttendorfes Castornix, Franziskus und Buddha gegen den Atommüll und natürlich die Bäuerliche Notgemeinschaft mit über 40 Treckern. „Die meisten von uns kennen diesen Weg im Schlaf“, spottete ein BI-Sprecher über Mikrophon, bevor sich der Zug von Gedelitz zum Gorlebener Zwischenlager in Bewegung setzte.

Diejenigen, die am Rande der Kundgebung die Sektkorken knallen ließen, hatten Gründe genug zum Feiern. Zum einen konnten sie den von Ministerpräsident Gerhard Schröder verkündeten Aufschub des Castor-Transports bis Ende August und die Rücknahme des Versammlungsverbots als satten Erfolg ihrer wochenlangen Widerstandsaktionen verbuchen. Noch viel wichtiger aber: Die bloße Ankündigung des Tag X war wie ein Blitz in den Landkreis eingeschlagen und hat die Stimmung entfacht, wie sie seit den Zeiten des großen Hannover-Trecks oder des legendären Hüttendorfes 1004 nicht mehr zu spüren war. In einer Art Kettenreaktion hatten sich ganze Dorfgemeinschaften, Ärzte, Pastoren, Gewerbetreibende, Schulen und Kindergärten in großformatigen Anzeigen der örtlichen Elbe-Jeetzel-Zeitung zum Widerstand gegen die Atomtransporte bekannt: „Wenn Castor kommt – wir stellen uns quer!“ – Um amtliche Erlasse oder polizeiliche Verordnungen scheren sich die Gorleben-Gegner nicht mehr viel, da haben Landesregierung und Kreisverwaltung endgültig verspielt. „Ich stehe zu der Anzeige von 259 Lüchower Schülern“, schmetterte der Landwirt Addi Lambke von der Kundgebungstribüne, die entgegen behördlicher Auflage das Tor zum Zwischenlager blockierte, „wenn Ihr das Leben nicht achtet, achten wir Eure Gesetze nicht!“ Und sein Kollege Horst Wiese stellte Überlegungen an, wie man sich zudringliche Uniformierte am besten vom Leibe halten könne: „Ich bin Kuhbauer, und bei der Rindviehhaltung ist es für den züchterischen Erfolg ganz wichtig, mit den Bullen richtig umzugehen. Untiere, die aggressiv werden, das Futter in den Dreck treten und die Umwelt zerstören, muß man in die Pfanne hauen!“

Als einer der ersten Kundgebungsredner hatte der Berliner Politikwissenschaftler Wolf-Dieter Narr vom „Komitee für Grundrechte und Demokratie“ das vom Landkreis erlassene und von der Landesregierung gebilligte Versammlungsverbot auf einer 24 Quadratkilometer großen Fläche förmlich in der Luft zerrissen. Demonstrationsexperte Narr zog Parallelen zu jenem berühmten Brokdorf-Urteil des Verfassungsgerichtes, in dem eine ähnliche Verfügung als unzulässig erklärt worden war, weil die angebliche „Gefahr im Verzug“ an keiner Stelle konkret benannt worden war. Der engagierte Menschenrechtler rief für den niedersächsischen Ministerpräsidenten unangenehme Erinnerungen wach: Gerhard Schröder und Wolf-Dieter Narr hatten vor mehr als einem Jahrzehnt nämlich gemeinsam an diesem Urteil mitgewirkt – Narr als Gutachter und Schröder als Rechtsanwalt des beklagten Jo Leinen.

Narr warnte, daß das skandalöse Versammlungsverbot nur aus taktischen Gründen zurückgenommen worden sei: „Es steht morgen wieder ins Haus und muß mit allen legalen und illegalen Mitteln bekämpft werden, nur gewaltfrei natürlich.“ Die Chancen dafür stehen nicht schlecht – nicht zuletzt wegen des Dorfes „Castornix“, das schon am Freitag von seinen etwa 200 Bewohnern wieder bezogen wurde. Die Zeit drängt, denn die Kreisverwaltung hat dem Besitzer der Waldfläche, Andreas Graf von Bernstorff, bereits schriftlich eine Abrißverfügung angedroht.

Doch auch die Angehörigen der alteingesessenen Adelsgeschlechter funktionieren im Wendland nicht mehr so, wie es die Obrigkeit gerne hätte. Graf Bernstorff ließ über seinen Rechtsanwalt Nikolaus Piontek schon am Donnerstag mitteilen, er habe sich noch nicht eingehend über das Hüttendorf informieren können. Nach seiner Wahrnehmung werde „die tatsächliche Gewalt über das Gelände zur Zeit von der Polizei ausgeübt“. In dem Anwaltsschreiben wird auf eine Bestimmung verwiesen, in der derartige Gebäude als zulässig bezeichnet würden, wenn sie einem land- und forstwirtschaftlichen Betrieb dienen und nur einen untergeordneten Teil der Betriebsfläche einnehmen. Beide Voraussetzungen, so Anwalt Piontek, scheinen gegeben: Das Hüttendorf werde nämlich von Castor-Gegnern benutzt, deren Demonstrationserfolg ganz sicher auch dem land- und forstwirtschaftlichen Betrieb des Grafen dienen werde.

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