Stolz auf die eigene Teewurstelei

Hamburg präsentiert sich und seine baulichen Tabus mit einem megalomanischen Architektursommer  ■ Von Till Briegleb

Seit Berlin wieder Hauptstadt ist, scheint die Zukunft der deutschen Architektur allein dort entschieden zu werden. So übermächtig wie die Dynamik der Aufgabe, so spektakulär und protzig scheinen die Entwürfe und Diskussionen, und so prahlerisch und laut gebärden sich die Bauherren, Politiker und ihre Architekten, daß Berlin den städtebaulichen Entwicklungen in anderen deutschen Städten eine nahezu totale Sonnenfinsternis des öffentlichen Interesses beschert. Mag das den Repräsentanten anderer selbsternannter Metropolen wie Frankfurt oder München sauer aufstoßen, so ist man in der zweitgrößten Stadt der Nation darüber eher froh. In Hamburg hat man nämlich seine ganz eigene Art des Protzens: die „Bescheidenheit“.

Dieser typisch hanseatische Charakterzug schlägt sich in der hamburgischen Architektur durch teures Mittelmaß und in der Städteplanung durch Experimentierverbot nieder und hat ihr sinnfälligstes Beispiel vielleicht darin, daß es zwar keinen einzigen Hamburger Architekten gibt, der durch außergewöhnliche Entwürfe internationale Beachtung beansprucht, aber mit von Gerkan, Marg und Partner eines der erfolgreichsten Architektenbüros der Welt hier beheimatet ist (und die schon vor zehn Jahren bejammerte Gerkan- Margisierung von Hamburg intensiv vorantreibt). Und obwohl seit Mitte der Achtziger das Gesicht der Hamburger Kernstadt durch Millionen Quadratmeter zusätzlicher Bürogeschoßflächen radikal verändert wurde, verkaufen Stadt und Architektenschaft das neue Kleid des Zentrums mit einem Understatement, als sei eigentlich nichts Wichtiges geschehen.

Formale Schmuckheit im Folklore-Patchwork

Tatsächlich verdient das Ergebnis des jetzt auslaufenden Baubooms der 80er Jahre die Bezeichnung „bescheiden“. Eine kleine Handvoll Hamburger Architekturbüros – neben von Gerkan, Marg und Partner vor allem Kleffel, Köhnholt, Gundermann – hat mit einer gemächlichen, heimatverbundenen Zitatarchitektur einen Hamburger Bürohaustyp entwickelt, der so unverwechselbar wie vergänglich an den Autotangenten der Stadt die Arbeitswelt als technische Kuschelecke präsentiert. Das Hamburger Kontorhaus des 19. Jahrhunderts, der rote Backstein der Fritz-Schumacher-Ära vor dem Zweiten Weltkrieg und die zu romantischen Assoziationen taugenden Elemente der Schiffsarchitektur prägen den neuen Typus, der Hamburg mit ermüdenden Erinnerungen an die goldenen Zeiten des Seehandels überzieht. Insbesondere die Türmchen, Relings, Segel, Bullaugen und Schiffsbrücken, ohne die kaum ein Neubau mehr entsteht, haben in ihrer formalen Schmuckheit oft den Charme von naiver Malerei oder Volkshochschularchitektur. Und als ob dieses folkloristische Patchwork noch nicht reichen würde, hat die Stadt in den vergangenen Jahren ein riesiges Areal in unmittelbarer Nähe der Innenstadt fast ohne gestalterische Auflagen an Investoren verkloppt, die mit einem Heer an Provinzarchitekten eine aufgeblasene Kleinstadtsparkasse neben die andere geklatscht haben; immer schön getrennt durch Distanzgrün und lieblos kanalisierte Fleete.

Das dahinter stehende stadtplanerische Konzept, dem sich alle erfolgreich sein wollenden Hamburger Architekten inzwischen untergeordnet haben – und auf das sie, trotz allen Understatements, teilweise doch sehr stolz sind –, ist ein Gemenge aus heimattümelnder Nostalgie und stetigem Einknicken vor der Geschmacklosigkeit der Investoren. Der Verweis auf die Hamburger Traditionen, den die örtliche Stadtentwicklungsbehörde gerne zum Diktat steigern würde, erschöpft sich dabei in einem formalen Korsett. Fassadenverkleidungen aus rotem Stein (der allerdings von einem fürchterlichen teewurstrosa bis zu einem orginal-kopierten blauroten Stein, wie ihn Fritz Höger für das Chilehaus verwendet hat, reichen darf) und ein Verbot von Hochhausbauten sollen das Erscheinungsbild der Stadt so bewahren, wie die Hamburgensien es vorschreiben: als Hansestadt am Fluß mit Kirchtürmen als Stadtkrone und der nordischen Backsteingotik als historischem Imperativ. Im ökonomischen Bereich ist dieser technizierte Heimatstil Ausdruck einer Abschottungshaltung, der die Hamburger Architekten im Einklang mit den Behörden zeigt. Der gemeinsame Nenner erleichtert die fruchtbare Zusammenarbeit.

Nun ist es prinzipiell durchaus lobenswert, wenn eine für Stadtentwicklung verantwortliche Behörde das wilde Durcheinandergeschrei verschiedener Stile in einer Stadt verhindern möchte, aber wenn sie dabei nichts anstrebt, als einen ordentlichen Chor braver architektonischer Musterschüler und eine Investorenclique, der man auch schon mal bei Bedarf Brücken und Straßen mitverkauft – dann sind die vielen Verweise auf die kluge und strenge Baupolitik eines Fritz Schumachers, der zwischen 1909 und 1933 den Grundriß des heutigen Hamburgs konzipierte, reines Blendwerk. Da verwundert es natürlich überhaupt nicht, daß man Weltarchitektur in Hamburg nur durch den Spion betrachtet.

Ein zugkräftiges Beispiel für die liberale Attitüde, mit der sich der gestandene Lokalpatriot – als welches der Hamburger Patrizier oder Beamte stets zu gelten hat – weltmännisch gibt, findet sich momentan in Form des Hamburger Architektursommers. Insbesondere eine Ausstellung mit Werken von Jean Nouvel, die während des bombastischen Architekturfestivals im dortigen Kunstverein gezeigt wird, kann exemplarisch für das schizophrene Verhältnis der Hamburger zu ihrem Stadtbild herhalten. Die Werkshow des intellektuell- humorigen französischen Stararchitekten, der in spielerischer und von formalen Tabus unbelasteten Art eine höchst ironische und gleizeitig reflektierte und qualitätsvolle Architektur entwirft – und der die nautische Metaphorik im Gegensatz zu seinen Hamburger Kollegen ernst nimmt, wenn er seine, an Schiffe erinnernden Bauten willentlich verrosten läßt – ist eines der Repräsentierstücke dieses Festivals. Stolz prangt Nouvels Name fast alleine von den Plakaten, die auf die große Architekturshow hinweisen sollen, und mit geschwellter Hahnenbrust präsentiert die Hamburgische Architektenkammer den Spötter gegen jede Genius-loci-Haltung (also gegen Hamburgs Credo) während des Deutschen Architektentages mit Vortrag, Ausstellung und Empfang.

Ausstellen? Gerne! Bauen? Niemals!

Über das Motto dieser Veranstaltung sind sich Theorie und Praxis in Hamburg völlig einig: Ausstellen? Gerne! Bauen? Niemals! Nouvels mit Licht und Transparenz arbeitende, in Metaphern und surrealen Motiven verwurzelte Architektur könnte ja schlagartig augenfällig machen, daß sinnlose, weil unbegehbare Relings um uneinsichtige Backstein-Glas-Fassaden mit funktionslosen Flugdächern nicht das erschöpfende Repertoire gebauter Kunst darstellen. Wenn man sich in Hamburg dann schon einmal ausnahmsweise einen internationalen Stararchitekten leistet, dann muß es natürlich der Kölner Oswald Mathias Ungers sein, dessen beliebig-monotone Handschrift kein nostalgisches Dogma verletzt und der deshalb das neue Museum für zeitgenössische Kunst bauen darf. Der Fluch des Dissenz, dem man in Hamburg mit allen der Harmonisierung dienenden Mitteln zu entgehen versucht, hatte sich an diesem Klotz immerhin einmal in unerwarteter Heftigkeit geregt. Gebaut wird er trotzdem, weil er den rechten stilistischen Gehorsam zeigt. Auch Ungers ist deshalb eine kleine Prunkausstellung zum Architektursommer gewidmet.

Der viermonatige Veranstaltungsmarathon, das größte Architektur-Festival, das jemals in einer deutschen Stadt ausgerichtet wurde, hat es sich zur Aufgabe gemacht, mit weit über zweihundert Veranstaltungen und Ausstellungen dem Umstand abzuhelfen, daß zwar jeder Volksschüler fünf Maler, Dichter und Komponisten kennt, aber sicherlich nicht einen Architekten. Um angesichts des massiven Angebots nicht in den Verdacht der so unhanseatischen Angeberei zu kommen, ist die heimliche Repräsentiersucht durch das Überwort „Stadtdialog“ entschärft worden. In Galerien, Museen und verlassenen Büros suchen die diversen Veranstalter in oft eilig und miserabel konzipierten Ausstellungen ihre Sicht von Baukultur zu artikulieren. Berühmte Architekten werden gewürdigt (neben Ungers, Schumacher und Nouvel unter anderem Alvar Aalto, Karl Friedrich Schinkel, Frank Gehry, Steven Holl und natürlich von Gerkan, Marg und Partner), unbekannte lokale Architekten machen auf sich selbst aufmerksam, thematische Ausstellungen beschäftigen sich mit dem Büro der Zukunft, der 50er-Jahre- Architektur oder Tapeten, und die Künstler zeigen mit eigenen Vorschlägen zur Architektur, warum die Kunst besser die Kunst bleibt und die Architektur die Architektur. Dazu führen unzählige Symposien, Diskussionsveranstaltungen und Podien die handvoll wirklich Interessierten hinter die oft drögen Kulissen der Materie.

Über Politik spricht man dabei wenig. Die wirtschaftliche und politische Grundlage des Bauens, die gräuliche Rolle der Investoren und die Weichheit der administrativen und politischen Entscheidungsträger, die gern von Urbanität und Metropolen schwätzen, solange sie diese keinem desinteressierten Investment-Yuppie erklären müssen, tauchen nur im absoluten Minderheitenprogramm und dort auch nur ansatzweise auf. Der Deutsche Architektentag, der sich eher plakativ als inhaltsreich mit dem Thema „Risiko Stadt?“ befaßte, näherte sich höchstens vom pragmatischen Aspekt diesem Thema. Die Selbstdarstellung der Stadtentwicklungsbehörde in der riesigen Deichtorhalle bot mehr ein Muskelspiel als ein Diskussionsangebot. Und die zentrale Ausstellung des Architektursommers, eine prächtig inszenierte Würdigung Fritz Schumachers anläßlich seines 125. Geburtstages, ließ dieses Thema besonders schmerzlich vermissen, weil der angebliche Spiritus rector der Hamburger Bauwelt sich zum Widerstreit zwischen wirtschaftlicher Grundlage und ästhetischem und sozialem Wollen der Stadtplanung ausgesprochen dezidiert geäußert hatte.

Doch solange dieser Dialog zwischen Investor und politischem Entscheidungsträger im patrizierhaften Gehabe der Hamburger Politik (und Ausstellungspolitik) vermauschelt wird, solange kann es auch keinen wirklichen Dialog über Architektur und schon gar keine Partizipation betroffener Bürger geben. Da kann Hamburgs neuer Stadtentwicklungssenator Thomas Mirow sich so sozialdemokratisch engagiert geben, wie er möchte. Resümiert man den Hamburger Architektursommer vor diesem Hintergrund, so wird klar, daß die unzähligen stadtplanerischen und stilistischen Inspirationen, die ein derartig megalomanisches Ereignis zwangsläufig mit sich bringt, mehr die Funktion von Geschmackszüglern haben, denn es will sie niemand benutzen. Und somit wird der Diskurs über Architektur zu einem medialen Ereignis, das wie eine Beavis- und Butthead- Show den im Konsens der Bauschaffenden versteckten Zusatz trägt: „Don't do this at home!“

„Jean Nouvel – Architektur als Passage“. Bis 14. August im Kunstverein Hamburg.

Architektur in der Photographie“. Bis 24. Juli im Museum für Kunst und Gewerbe.

„Die Stadt braucht Luft – Bauen in Hamburg 1945–1965“. Bis 31. Juli im Ernst-Barlach-Haus.