: DDR-Kindheit zum Anfassen
In Berlin sammelt der Verein „Kindheit“ Zeugnisse zum realsozialistischen Kinderleben ■ Von Bascha Mika
Pittiplatsch, Pionierpalast, Erziehungsplan, Sandmännchen, Putzi-Zahnpasta, Klassenkollektiv. „Meine Liebe, meine Tat, meiner Heimat DDR.“ Kinderleben auf realsozialistisch. „Wir müssen davon ausgehen, daß die Erziehung des Menschen in seinen ersten Lebenstagen beginnt und nur dann Sozialisten herangebildet werden können, wenn der komplizierte Prozeß der Erziehung und Bildung vom ersten Tage bis weit hinein ins Erwachsenenalter einheitlich und kontinuierlich gestaltet wird“ (Einführung in den Arbeitsplan der staatlichen Kinderkrippen).
Was ist geblieben? Ein durch und durch erzogenes Volk – und Gegenstände. Zeugnisse aus 40 Jahren realsozialistischer Kinderkultur. Vergangenheit zum Anfassen. Diese „Objekte“ verschwinden seit der Wende genauso schnell aus den Kinderzimmern wie der Anzug „Präsent-20“ aus dem Schrank. Sonni-Puppe weg, Barbie-Puppe her. Verzichtbare Erinnerungen.
Eben nicht, denkt der Verein „Kindheit“ in Berlin-Lichtenberg. Im Frühjahr 1990 startete er das Projekt „Kinderleben in der DDR“. Seither sammelt er Materialien zum Kinderalltag in der Deutschen Demokratischen Republik zwischen 1949 und 1989. Von Spielzeug bis zu Kleidung, von Ton- und Bildträgern bis zu Lehrplänen und Zeugnissen der Arbeit von Elternaktiven.
Spuren sichern, Strukturen kenntlich machen. Kindererziehung in der DDR war institutionalisierte Erziehung. Neben den Krippen, Kindergärten und Schulen wurde in den Massenorganisationen der Kinder (Pioniere) und Jugendlichen (FDJ) herangebildet. Dies soll die Dokumentation widerspiegeln. „Es geht nicht um einen verklärenden Rückblick“, sagt Renate Tönjes, Mitglied der Arbeitsgruppe, „sondern darum, die Auseinandersetzung mit unserer Geschichte zu versachlichen.“
Spartakiaden, Pioniergesetze, Manöverspiele. Kindergeschichte in der DDR war die Geschichte gesellschaftlicher Anforderungen und Erwartungen. Disziplin, Pflichterfüllung, Ordnung und Sauberkeit. Durchstrukturiertes Kinderleben von der vollgekackten Windel bis zum ersten Knutschen. „Die Disziplin ist was Ekelhaftes“, resümiert ein 16jähriger Jugendlicher seine Schulzeit, „sie wurde uns ständig eingebleut in einem Atemzug mit Strammstehen, Meldung machen, leise sein, mit Zurückhaltung, unterdrückten Gefühlen wie Ärger, Frust, Freiheit, Spaß.“
Winkelemente, Ordnungsdienst, Leistungssporttauglichkeit. „Das Kind, ein zu formendes Objekt, das reibungslos zu funktionieren hatte“, schreibt die Ost-Psychiaterin Agathe Israel. Sie macht im Realsozialismus die typischen Merkmale einer repressiven Erziehung aus: Prozeßfeindlichkeit, die sofort und total ein bestimmtes Verhalten abverlangt. Separationspraxis, bei der das Kind sehr früh von seinen wichtigsten Bezugspersonen emotional und räumlich getrennt wird. Trieb- und Antriebsfeindlichkeit, die lustvolles Agieren, Kreativität und Aggressivität ausschließt. Was dabei herauskommt? Eine infantile Persönlichkeit, bei der sich Selbstbestimmtheit nur minimal entwickelt hat.
„Wir sollten ein Bild malen ,Pioniere helfen im Haushalt‘“, erzählte der sechsjährige Martin seiner Mutter, die dies in ihrem Tagebuch festhielt. „Da hab' ich mich gemalt mit einer roten Bluse und einer grünen Hose beim Abwaschen. Die Lehrerin wollte, daß ich mich mit einer Schürze malen sollte, und da hab' ich gesagt, daß meine Mama und ich beim Abwaschen keine Schürze umbinden. Ich mußte die Schürze trotzdem malen und außerdem noch ein Muster auf die Bluse, weil das freundlicher aussieht, hat sie gesagt.“
Puppentheater, Butzemann- Haus, Sauberkeitserziehung. Bereits Säuglingen in der Kinderkrippe wurde ein fester Tagesrhythmus aufgedrückt. Schlafen, essen, spielen, Töpfchen nach exaktem Stundenplan. „Mein Kind lag sofort stramm im Gitterbett, wenn ich den Ton der Krippentante nachahmte: Leg dich hin!“ verriet eine Mutter der Kinderpsychiaterin Israel. Zweidrittel aller DDR-Kinder zwischen sechs Monaten und zwei Jahren wurden in 7.600 Kinderkrippen betreut.
Von dort wurden sie weitergeschoben in den Kindergarten. Der Einordnungsdrill ging weiter. Am Wochenende, berichtet Agathe Israel, kommandierte der fünfjährige Michael die Gänseblümchen auf der Wiese: „Jetzt stellt euch aber gerade hin!“ Über 90 Prozent DDR-Kinder besuchten einen Kindergarten bis zur Einschulung.
Gelöbnis, Friedenstaube, Fanfarenzug. „Ich bin gut, fleißig und staatstreu“, mußten bereits Schulkinder heucheln. „Da mußte man so ,normal‘ sein wie die Vorschrift, und das möglichst noch freiwillig“, erzählt der 16jährige Jugendliche, „und der kleine Toleranzbereich, den es gab, der ging bloß bis zu ein paar Redewendungen.“ Im Schulhort, den die meisten Schulkinder besuchten, galten die gleichen Disziplinvorschriften wie in der Schule: Zappeln und lautes Reden untersagt! Die Erziehungspraxis der staatlichen Institutionen wurde in der Regel von den Eltern zu Hause fortgeführt. Auch hier: Ordnung, Pflichterfüllung und Gehorsam. Autoritär durchgesetzt.
Von frühester Kindheit an wurden die kleinen Sozialisten ideologisch überfrachtet: Vaterlandsliebe, Friedensliebe, Klassenfeind. Im Kindergarten wurden Briefe verteilt. Text: „Lieber Soldat, ich freue mich, daß Du unsere Heimat schützt, und danke Dir dafür.“ Die Kinder verzierten das Blatt mit Bildchen und schickten es an NVA-Soldaten. Kindergarten als ideologische Kaderschule. Paramilitärische Spiele und Lieder gehörten zum Repertoire. Im Kindergarten, in der Schule und bei den Pionieren, der politischen Zwangsorganisation der Kinder der DDR. Dann bei der FDJ.
Und seit fünf Jahren ist alles vorbei. „Je größer der zeitliche Abstand von der DDR-Wirklichkeit wird“, stellt Renate Tönjes vom Projekt „Kinderleben in der DDR“ fest, „desto verschwommener wird die Erinnerung. Um so wichtiger sind Gegenstände und Dokumente, die helfen können, die eigene Kindheit zu verstehen.“ 10.000 Objekte hat die Arbeitsgruppe bereits gesammelt und museologisch aufbereitet. Konservierung vergangener Kindertage, jenseits von Verdrängung, Verharmlosung oder Dramatisierung.
Im Rahmen seiner Familienberatung bietet der Verein „Kindheit“ eine „Elternschule“ an. Die Zeitzeugen aus Plüsch, Papier und Plaste sollen Eltern helfen, die eigene Kindheit sinnlich neu zu erfahren und zu verstehen. – Und die ihrer Kinder.
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