■ Nach dem BVG-Urteil zur Bundeswehr haben es die Verteidiger einer anderen Außenpolitik noch schwerer
: Betrug und Methode

„A Murder Is Announced“ lautet der Titel eines der klassischen Kriminalromane von Agatha Christie; er könnte auch über der Verfassungsklage gestanden haben, die mit dem Urteil vom 12. Juli 1994 über Kampfeinsätze der Bundeswehr entschieden wurde. Daß dieses die Position der Bundesregierung bestätigen würde, war von vornherein klar, wollten doch selbst die Antragsteller letztlich nichts anderes; aber daß die Feststellung, solche Kampfeinsätze im Rahmen von Bündnisverpflichtungen seien verfassungskonform, einen Mord an Wortlaut und Geist des Grundgesetzes bzw. der Ergänzungsartikel von 1956 darstellt – „Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf“ (Art. 87a) –, das ist ebenso klar. Denn was immer die Szenarien solcher Einsätze sein mögen, von denen wir ja schon kleinere Vorspiele kennen: der Verteidigung der Bundesrepublik Deutschland werden sie nicht dienen.

Indem das Gericht nunmehr ausdrücklich die Verfassungsmäßigkeit militärischer Out-of-area- Unternehmen bestätigte, sagte es ja doch nichts Geringeres als: solche sind schon seit 1949 möglich gewesen, die Verteidigung des Territoriums, mit der die (west-) deutsche Wiederbewaffnung begründet, vor dem Volk gerechtfertigt und 1956 in die Verfassung verankert worden war, sind von Anfang an keineswegs der alleinige Auftrag der Bundeswehr gewesen, politisch naiv also diejenigen, die das Grundgesetz da beim Wortlaut und ernst genommen hatten. Man denke nur an die Hunderttausende von GG-Texten, die die Bundes- und Landeszentralen für politische Bildung an Zehntausende Schulen für den staatsbürgerlichen Unterricht verschickt haben: Deren Lesern wird jetzt an einem zentralen Punkt der politischen Ordnung dieses Gemeinwesens – und die Stellung des Militärs ist ja gewissermaßen der Prüfstein für jede politische Ordnung – mitgeteilt, das, was da geschrieben steht, sei nicht so gemeint gewesen.

Nun ist es schon seit langem kein Geheimnis, daß die gesammelten Urteile des Bundesverfassungsgerichtes wichtiger sind als die Verfassung selbst, weil sie nicht nur restriktiv interpretieren, sondern das GG extensiv ausgelegt und damit verändert haben – aber in der Sache, um die es hier nun ging, ist da doch eine Ungeheuerlichkeit passiert, ein „Mord“. Aber es ist ein Mord mit Methode, mit Geschichte.

Die Geschichte der (west-)deutschen Wiederbewaffnung ist eine einzige Betrugsgeschichte (die der SBZ/DDR ohnehin, aber dort war ja bei nahezu völligem Fehlen öffentlicher Auseinandersetzung kaum anderes zu erwarten). Ehe, nach dem Zusammenbruch von 1945, an die Wiedererrichtung staatlicher Strukturen überhaupt gedacht werden durfte, hatten sich Ex-NS-Geheimdienste und ihre amerikanischen Kollegen schon gefunden und bei hohen deutschen Wehrmachtgenerälen vorgefühlt beziehungsweise durchblicken lassen, daß man an einer Zusammenarbeit interessiert sei (um die Militärgeschichte des Zweiten Weltkrieges zu schreiben, so hieß es zunächst). Konrad Adenauer wollte, um die staatliche Souveränität des neuen westdeutschen Staates durchzusetzen und ihm politisches Gewicht zu geben, die deutsche Wiederbewaffnung. Da diese aber innenpolitisch zunächst kaum durchsetzbar gewesen war, operierte er zunächst mit dem nie ernstgemeinten Vorschlag eines Verteidigungsbeitrages im Rahmen einer europäischen Armee; auf diese Weise hielt er das Thema im Gespräch und konnte zugleich beteuern, er sei gegen deutsches Militär. 1950 ließ er ein sogenanntes „Sicherheitsmemorandum“ erstellen, in dem er ohne Wissen seines Kabinetts – geschweige denn des Parlaments oder gar der Öffentlichkeit – deutsche Soldaten anbot; gedeckt hatte er sich dadurch, daß er den drei westlichen Hohen Kommissaren nahelegte, sie sollten ihn zu einem deutschen Wehrbeitrag auffordern. Und so nahm die Betrugsgeschichte ihren Gang bis in unsere Tage.

Daß die „Vaterlandsverteidigung“ schon seit Jahren nicht mehr, und zwar nicht erst seit der Vereinigung, das Selbstverständnis der Bundeswehrführung und ihrer strategischen Ideologen ausmachte, war und ist überhaupt kein Geheimnis; die Umrüstung auf andere Formen und Ziele militärischen Einsatzes hat das Planungsstadium längst hinter sich gelassen – nur eine große Zahl von deutschen Bürgern meinte nach der Wende von 1989/90 naiverweise, nun sei doch das deutsche Militär eigentlich überflüssig und funktionslos geworden. Auch wenn Saddam Husseins Kuwait-Abenteuer den deutschen Militärideologen nicht so glücklichen propagandistischen Beistand geleistet hätte: eine Bundesrepublik ohne Armee kann sich eine politische Klasse, die von sich behauptet beziehungsweise journalistisch behaupten läßt, sie sei jetzt „erwachsen“ (FAZ), nicht nur nicht vorstellen, ein derart kühner Gedanke wäre für sie geradezu die Ausgeburt politischer Geisteskrankheit.

Der Topos vom „Erwachsensein“, von der Notwendigkeit, endlich „Verantwortung“ in der Weltpolitik zu übernehmen, daß „wir Deutschen“ uns nun nicht länger mittels eines Verfassungsvorwandes „heraushalten“ könnten aus den Konflikten der Welt, daß wir auch die „Risiken“ mitzutragen hätten etc. – das war das Unisono fast aller respektablen Kommentare. Und wir seien doch nun endlich souverän, und dazu gehöre eben auch eine militärisch gestützte Außenpolitik der Souveränität. Hatte man uns denn nicht – Betrug mit Methode also auch das? – seit Ablösung des Besatzungsstatuts und spätestens seit den Notstandsgesetzen von 1968 gesagt, die Bundesrepublik Deutschland sei ein souveräner Staat (mit Ausnahme des Sonderstatus von Berlin)?

Und er war es ja auch: hat denn die BRD nicht spätestens seit den sechziger Jahren eine aktive Außenpolitik ideologischer und ökonomischer Interessenvertretung in allen Teilen der Welt betrieben? Man reibt sich die Augen, wenn es heute heißt, das sei keine so ganz ernsthafte und souveräne Politik gewesen, von der man erst seit der Einheit reden könne – und man bekommt Angst vor dem, was die Außenpolitik des nun endlich erwachsenen Deutschland sein soll.

Der Mord am ausschließlichen Verteidigungsauftrag der Bundeswehr wird nun aber so begründet, daß gleich noch ein zweiter Mord geschieht: Art. 24 – „Der Bund kann durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen“ – war konzipiert gewesen als ein historisch neuartiger Souveränitätsverzicht mit Blick auf ein vereintes Europa. Aus der „kollektiven Sicherheit“ zur Bewahrung von Frieden zwischen den Völkern macht das BVG-Urteil aber etwas geradezu dramatisch anderes, indem es spricht von „freiheitssichernden Operationen der Vereinten Nationen“. Zwar gehören Freiheit und Frieden dialektisch zusammen, in der Realpolitik aber sieht das ganz anders aus. Da wird zum Beispiel die Sicherstellung der „Freiheit der Meere“ oder der „Freiheit der Marktchancen“ sehr schnell zur Legitimation militärischer Interventionen – eben derer, auf die auch unsere Bundeswehr sich bereits vorbereitet und die mit „Friedenssicherung“ nichts zu tun haben. Wir haben das Recht auf freien Zugang zu unserem Öl, zum Beispiel. Das Urteil legitimiert also hier schon antizipierend eine ökonomisch motivierte „Kanonenbootdiplomatie“ zukünftiger Bundesregierungen – wie problematisch die Billigung durch die UNO dabei ist, hat der Zweite Golfkrieg deutlich genug gezeigt.

Und schließlich stellt sich auch der von vielen Kommentatoren gerühmte Parlamentsvorbehalt als eher sein Gegenteil dar: „bei Gefahr im Verzuge“ könne die Bundesregierung „vorläufig den Einsatz von Streitkräften beschließen“ und brauche erst anschließend, wenn auch „umgehend“ ihre Entscheidung dem Parlament vorzulegen, das schließlich den Rückzug der Streitkräfte beschließen könne. Welche Naivität – nein: welche bewußte Täuschung demokratischer Hoffnungen! Als wenn es nicht völlig ausgeschlossen wäre, daß ein Parlament der eigenen Regierung in den Rücken fällt, wenn die eigenen Soldaten schon mitten im Kampf stehen – da kennen wir doch bekanntlich keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche!

Die zahlreichen US-Interventionen der Nachkriegszeit, allen voran der katastrophale Vietnamkrieg, waren so als Regierungssache „bei Gefahr im Verzuge“ begonnen worden, und keine Parlamentsmehrheit hat es gewagt, die Rolle des unpatriotischen Neinsagers auf sich zu nehmen – oder man hat die Operationen so schnell zu Ende gebracht (zum Beispiel in Grenada), daß das Parlament gar keine Gelegenheit hatte, sich kritisch zu äußern. Unser BVG-Urteil aber entzieht die Außenpolitik sogar noch explizit einem möglichen Zuviel an demokratisch-parlamentarischer Kontrolle, indem es von dem „von der Verfassung für außenpolitisches Handeln gewollten (!wo?) Eigenbereich (!) exekutiver Handlungsbefugnis und Verantwortlichkeit“ – also im Klartext: der Nichtverantwortlichkeit – spricht.

Ein historisches Datum ist jener 12. Juli kaum – aber diejenigen, die für eine friedliche, andere, nicht der Normalität internationaler Komplizenschaft mit der Staatenkriminalität verpflichtete Außenpolitik Deutschlands wollen, die haben es von jetzt ab noch schwerer. Trotzdem. Ekkehart Krippendorff

Politikwissenschaftler an der FU Berlin;

zuletzt erschien: „Militärkritik“ (1994)