Gefährlicher Traum

■ Regierung von Bangladesch fürchtet, selbst Zielscheibe der Fundamentalisten zu werden, wenn sie Taslima Nasrin schützt

Delhi (taz) – Zur Empörung, welche der Mordaufruf gegen die bangladeschische Schriftstellerin Taslima Nasrin ausgelöst hat, gesellt sich in Europa immer mehr auch Ärger und Unverständnis über die Reaktionen in Bangladesch selber: Die Regierung von Premierministerin Khaleda Zia hat gegen Nasrin einen Haftbefehl wegen „Verletzung religiöser Gefühle“ verfügt – überließ es aber dem Bruder der Schriftstellerin, gegen die Autoren der „Fatwa“ Klage zu erheben. Taslima Nasrin mußte untertauchen, ihre Gegner planen in aller Öffentlichkeit weitere Demonstrationen. Auch die wichtigste Oppositionspartei, die „Awami Liga“, hat ihre Verurteilung der Fatwa mit Kritik an den Äußerungen Nasrins verbunden.

Während der Westen darin bereits Symptome einer religiösen Verhärtung der bangalischen Gesellschaft sieht, müssen diese zunächst als Reaktion eines noch weitgehend toleranten politischen Systems auf die Herausforderung fundamentalistischer Kräfte gedeutet werden: In den Augen der bangladeschischen Öffentlichkeit stellen die Äußerungen Taslimas eine gefährliche Provokation der Fundamentalisten dar. Die Feststellung, daß der Koran revisionsbedürftig sei, stößt all jene Muslime vor den Kopf, für welche das Buch noch wirklich das Wort Gottes ist; die Gedichte mit ihren sexuellen Anspielungen verletzen das Schamgefühl einer noch zutiefst traditionalistischen Gesellschaft; und in Nasrins Traum eines säkularen Staates taucht die Idee auf, die religiös begründete Trennung Indiens von 1947 in verschiedene Staatswesen wieder aufzuheben – ein rotes Tuch für die Bangladescher, die sich vom übermächtigen Nachbarn ohnehin bedrängt fühlen. Nachdem eine unbekannte Gruppe ein Kopfgeld auf Nasrin ausgesetzt hatte, wurden die islamistischen Parteien rasch auf das politische Kapital aufmerksam, das sich aus den Äußerungen der jungen impulsiven Schriftstellerin schlagen ließ. Dies galt besonders für die „Jamaat Islami“-Partei, die politisch weitgehend isoliert war. In den Wahlen 1991 hatte die Jamaat zwar erstmals 18 Sitze erobert. Die damalige Konstellation einer Regierung ohne absolute Mehrheit im Parlament verschaffte ihr zudem einiges politisches Gewicht. Ein Jahr später jedoch wurde ihr Führer Golam Azam wegen Kollaboration mit Pakistan im Unabhängigkeitskampf 1971 zum Tode verurteilt.

Die Jamaat versuchte zunächst, die große Abhängigkeit des Landes von ausländischer Entwicklungshilfe als neues Sprungbrett aufzubauen. Überall im Land begannen Mullahs gegen die zahlreichen privaten Hilfsgruppen zu wettern, denen sie vorwarfen, mit Geld aus dem Ausland die traditionelle Sozialordnung zu untergraben. Doch erst mit den offenen Meinungsäußerungen von Nasrin in Zeitungen, in ihren Gedichten und im Roman „Lajja“ („Schande“) sah die Partei die Stunde gekommen, ihre reaktionäre Ideologie mit religiösen und nationalistischen Argumenten zu verbinden.

Die ängstlichen Reaktionen von Regierung und Opposition zeigen, daß diese die Gefährlichkeit der Herausforderung erkannt haben. 1990 hatte die demokratische Massenbewegung zum Sturz des Militärherrschers General Ershad genauso wie zwei Jahre später die Mobilisierung gegen den Jamaat- Führer Golam Azam gezeigt, daß die demokratische und säkularistische Grundströmung noch intakt war. Gegenüber diesen Bewegungen sind die Demonstrationen, die von den fundamentalistischen Gruppen auf die Straßen gebracht werden, noch kümmerlich.

Dennoch ist nicht zu übersehen, daß die staatstragende Ideologie einer Nation, die sich um ihre bangalische Ethnizität schart, am Verblassen ist. Zwanzig Jahre einer von Militärcoups, Naturkatastrophen, Korruption und Verelendung geprägten Unabhängigkeit haben das Bild des „Goldenen Bengalen“ verdüstert. Sie haben in einer nach Orientierung suchenden, verunsicherten Gesellschaft ein Vakuum geschaffen, das der Islam nun zu füllen verspricht. Bereits die Generäle Zia ur-Rahman – der 1978 ermordete Ehemann der heutigen Premierministerin – und sein Nachfolger Ershad hatten das Risiko erkannt und in der Verfassung entsprechende Retuschen angebracht. An die Seite diesseitiger Ziele – wie Ernährung und Beschäftigung – stellten sie auch die jenseitige Heilserwartung, die durch den Islam als Staatsreligion gesichert werden sollte.

Bisher hatte dieser religiöse Rahmen – der nicht weiter geht als die Berufung auf christliche Grundwerte in westlichen Verfassungen – den Fundamentalisten genügt. Taslima Nasrins Kritik an einer patriarchalischen Gesellschaft, ihre Forderung einer Religionsreform und der Appell für ein neues Verhältnis mit dem Nachbarn Indien, bildet nun eine explosive Verbindung, die nicht nur ihre Person gefährdet, sondern auch die politischen Gewichte im Land zu verschieben droht. Bernard Imhasly

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