"Und wieviel Geld wir dafür kriegen!"

■ Der Zirkus als Warenhaus oder Das Ende der Legende: Karstadt präsentiert Roncalli in Hochglanz vor dem Reichstag

„Das, worüber man hinwegkommen muß“, schrieb Karl Kraus als Wiener, „ist nicht das Ziel. Lebensmittel sind nicht Lebenszweck.“ Anders als an der unschönen blauen Donau, so fuhr er fort, speise, nein, esse man an der Spree, um zu leben. Inzwischen ist dieser Städtevergleich etwa 70 Jahre alt. Und modert so vor sich hin. Letzter Beweis: unsere Liebe zu Roncalli, einem deutschen Zirkus mit Wiener Direktion – jetzt präsentiert von Karstadt.

Karstadt, pardon!, Roncalli öffnet seine Zeltplanen heute abend am Reichstag: „Dankbar, daß wir an dieser historischen Stelle unser Zelt errichten dürfen. Die Direktion.“ Karstadt hingegen verbleibt bescheiden an so unhistorischen Ecken oder Straßen, die bloß nach Schloß oder Müller oder Hermann, nach Tempelhof oder Wilmersdorf benannt sind. Nur dort, so der Verweis, und an der Zirkuskasse selbst hat man „exklusiv“ nach Karten anzustehen, zwischen 10 und 58 Mark, zwischen Nerz von der Stange und Bratwurststand.

Apropos Nerz: Lebendige Nerze, dressiert und vorgeführt von dem russischen Zauberkünstler Jewgeni Schmarlowski, gibt es auch im Roncalli-Programm. Da betritt eine Dame im Nerzmantel die Manege, eine Art orchestrales Sirenengeheul ertönt, und dann beginnt es zu wimmeln: Die Pelzchen sind ihrer Körper nämlich gar nicht beraubt, die Tiere springen von der Dame ab und rennen nach draußen. Nerzsterben umgekehrt, vom Mantel zum Tier, da zeigt sich der Tierfreund – und schön ist es auch, daß die Nerze zweimal am Tag das Licht der Manege erblicken, da sie ansonsten fast im Dunkeln leben, in Hühnerkäfigen im Möbeltransporter.

Weiter: Am Reichstag – so Prinzipal Paul – würde mit ihm „zum ersten und letzten Mal“ ein Zirkus stehen. Stimmt nicht. Denn schon 1995 wird dort der ebenso legendäre franko-kanadische Cirque de Soleil stehen, und von 1824 bis 1888 stand eben dort der nicht weniger legendäre „Cirkus vor dem Brandenburger Thore“, ein massiver Bau mit Uhrwerk über dem Portal. Die Roncalli-Legende wird brüchig. Ohnehin: Vier Monate Berlin beim ersten Gastspiel 1984, zwei Monate 1987, einen Monat 1990... Von Mal zu Mal die Hälfte weniger. Da muß in den achtziger Jahren etwas schiefgelaufen sein. Gewiß nicht im Management und Marketing, wie das Anzeigengeschäft beweist, doch mit der Kunst.

Erinnern wir uns: 1976 gab es einmal eine neue Zirkus-Idee, irgendwie wunderlich und in den Augen von Manager-Mumien fast eine Art Antizirkus. Die Idee war mit André Heller & Bernhard Paul aus Wien nach Bonn gekommen, wo Schneewittchen sowieso seit Jahrzehnten auf der Lauer gelegen hatte. Nicht im Wohnwagen, sondern gutbürgerlich geboren, kamen ihr die Donau-Zirkusprinzen gerade recht, einer galanter als der andere. Und ab ging „Die Reise zum Regenbogen“. Es sollte, O- Ton Paul, „die erfolgreichste deutsche Unterhaltungsproduktion der Nachkriegszeit“ werden: über acht Millionen Zuschauer (Preise siehen oben). Nur Ufa-Produktionen waren zuvor erfolgreicher: Auch Heinz Rühmann kehrt zurück und rührt „in der Roncalli-Manege mit seinem Lied vom Clown...“. Eine neue Zirkus-Idee? Zwar nicht das Rad, aber den Zirkus will Paul „neu erfunden“ haben.

Neuentdeckt nach 1945 hat er zweifellos, wenn nicht die Mäzene André Hellers, die notorische Wahlverwandtschaft Bonn-Wien, wo sich Karl Kraus schon seinerzeit einer „Gemütlichkeit“ schämte, die kein Raum sei für das Eigentliche, Wesentliche, vielmehr die Realität des Lebens versüße: „Hier finden wir täglich das Alte ungewohnt, beglotzen die Tradition und hoffen auf die Vergangenheit.“

Damals kamen alle Künstler, die sich auf der Straße wie Django Edwards aufführten, um in ihrer schönen Unschuld das Lied vom Zirkushändler Paul zu singen. Sie landeten als Zahlkellnerinnen im „Café des Artistes“ oder als Requisitenschieber am Rand der Manege: 50 Mark bei 10 Stunden täglich, plus Kost & Logis. Andererseits machten sie es dem Unternehmen nicht leicht, sich gegenüber acht Millionen zahlenden Gästen vom „alternativen“ Entertainment abzugrenzen. Schließlich waren als offizielle Antwort auf das Theater der 68er Epigonen die „Neue Innerlichkeit und Gefühlskultur“ im Trend: „Poesie“. Nach Helmut Qualtinger „Kitsch für Intellektuelle“.

Alternative? Neuer Zirkus? Der Prinzipal schon 1980: „Die waren 68 bei den Studentenunruhen, spielten 70 in 'ner Beatgruppe, und heute sind sie Clowns. Die wollen ohne Arbeit überall sofort mitmachen. Mit diesen uniformierten Alternativen fängst du nichts an.“ Das waren dieselben FaulenzerInnen, die schließlich mit Gosh, Parody Paradise, Chamäleon, Scheinbar, Tempodrom und Ufa- Zirkus angefangen haben.

Qualtingers „Kitsch“-Verdikt indes ist heute nicht mehr wahr. Nachdem der „Regenbogen“ in zwölf Jahren abgespielt war, die Dauer der ersten drei Berlin-Auftritte bis 1990 auf 25 Prozent abgesackt, war der Schnörkel als Selbstzweck nicht mehr nur für „Intellektuelle“, sondern Roncalli als Luxus für alli angesagt – nun unter dem schwindelfreien Etikett „Commedia dell'arte“. Im „über 2,5 Millionen teuren Zeltpalast mit Schnäppchen und Scala-di-Milano-Logen“ – und dem Firmenschild eines anderen Warenhauses. Ob dieses Schild „Ausdruck der neuen Roncalli-Ästhetik“ sei, wollte bei der Medienpräsentation jemand wissen. Da lachte der Zirkusdirektor: „Wenn Sie wüßten, wieviel Geld wir dafür kriegen...“ Und ein Beisitzer, Geschäftsführer der Karstadt-Gruppe, verriet: „Wir sind Partner, die gut zusammenpassen.“ Konfektion de luxe.

Nun laufen die Schaufenster der Kaufhausfilialen von Roncallis Andenkengut, die Kassen von Tickets über – doch nur im Westteil der Hauptstadt... In der neuen Marktstrategie darf der alte Osten noch nicht mitspielen, selbst wenn vergleichende Nachfrageprognosen von 6,5 zu 1,5 Prozent zu Ostgunsten sprechen. Bei Roncallis Finalwalzer bleibt man lieber unter sich. Treue gegen Treue, Publikumsschwund hin oder her, und der Zauberlehrling spricht (in Gedanken gen Westen geneigt): „Sie, hochverehrtes Publikum, haben Roncalli erfolgreich gemacht... Ich, Bernhard Paul, danke dafür herzlich.“ Michael Naether

„Commedia dell'arte“, 19.7.–11.8., Mi.–So. 15 und 20 Uhr, Mo./Di. 20 Uhr, Circus Roncalli, vor dem Reichstag.