Eine Stadt ohne Zukunft

Zwei Jahre nach Kriegsbeginn lebt im ostbosnischen Zvornik kein einziger Muslim mehr / Die Serben nennen dies „Bevölkerungswanderung“  ■ Aus Zvornik Werner Rott

Auf den ersten Blick ist Zvornik im Sommer 1994 eine ganz normale Stadt. Die Straßen sind voller Menschen, die Kaffeehäuser überfüllt. Doch wer die ostbosnische Gemeinde aus der Zeit vor dem Krieg kennt, muß keine zwei Mal hinsehen, um zu bemerken, daß sich hinter der Fassade der Normalität alles völlig verändert hat. Nicht nur, daß die Moschee eingeebnet wurde und die zerstörten und umgestürzten Gedenktafeln und Statuen auf dem muslimischen Friedhof heute serbischen Milizionären als Zielscheiben dienen. Wichtiger ist, daß es zwei Jahre nach Kriegsbeginn in Zvornik kaum noch Zvorniker gibt. Und daß unter denen, die geblieben sind, kaum einer bereit ist zu erzählen, was sich in der Gemeinde abgespielt hat.

Dabei waren vor dem Krieg 60 Prozent der 85.000 Menschen im Bezirk Zvornik Muslime. In der Stadt selbst stellten sie gar 75 Prozent der Einwohner. Heute gibt es in Zvornik keinen einzigen Muslim mehr. Und doch will niemand von muslimischen Opfern sprechen. Die lokalen Behörden haben nur Informationen über die „Verbrechen der Muslime“.

An einem einzigen Tag seien 46 serbische Zivilisten ermordet und in der Höhle bei Kamenica verscharrt worden, heißt es. In Pale, dem Hauptquartier des selbsternannten „Präsidenten“ der bosnischen Serben, Radovan Karadžić, wird gar angegeben, „die Muslime“ hätten fünfhundert Serben aus Zvornik ermordet. Insgesamt seien zweitausend serbische Zivilisten umgekommen.

Und die Muslime? Letztendlich wissen in Zvornik alle, daß es unter ihnen viele Opfer gegeben hat. Gerade hat im benachbarten Serbien der erste Prozeß gegen einen serbischen Kriegsverbrecher begonnen. Dušan Vučković, ein Krimineller aus dem Belgrader Vorort Umak, rühmt sich dort öffentlich, sechzehn muslimische Zivilisten umgebracht und zig weitere verwundet zu haben. Für die Vergewaltigung gibt Vučković sogar Beispiele an. Er brüstet sich, eine Frau aus dem Dorf Divić auf der serbischen Seite der Drina erst vergewaltigt und beraubt und dann ermordet zu haben.

Vućković ist Angehöriger einer Privatmiliz, die sich „Gelbe Ameisen“ nennt. Die Milizionäre bekennen stolz, bei ihren Raubzügen habe niemals auch nur ein einziger Muslim überlebt. Um ihren Hals tragen die „Gelben Ameisen“ goldene Ketten als Zeichen dafür, wie viele Frauen sie vergewaltigt, beraubt und ermordet haben.

Die serbischen Behörden wurden auf die Milizionäre erst aufmerksam, als diese nach dem „Verschwinden“ der Muslime begannen, serbische Häuser zu überfallen und auszurauben. So wurde der Apotheker Milenka Vidović ermordet, nachdem er Mitglieder der „Gelben Ameisen“ in sein Haus gelassen und ihnen sogar Schnaps angeboten hatte. Als sie ausgetrunken hatten zwangen die Milizionäre den Doktor, ein Messer zu holen, und schlachteten ihn wie ein Schaf in seiner Badewanne.

„Zu den vier Titten“ nennen Milizionäre und lokale Gangster ihr Stammcafé, weil es von zwei Schwestern bewirtschaftet wird. Seit Anfang des Krieges treffen sie sich allabendlich hier, um sich gegenseitig beim Prahlen zu übertreffen. Immer geht es darum, wer die meisten Muslime auf die grausamste Art getötet hat. Zu Kriegsbeginn brachte man als Beleg für die eigenen Erfolge noch die abgeschnittenen Ohren der Opfer mit. Es heißt, daß diejenigen, die die meisten vorlegen konnten, auf Kosten des Hauses tranken.

Gefangene Muslime wurden gezwungen, wie zu Zeiten des Römischen Reiches als Gladiatoren gegeneinander zu kämpfen, während sie das besoffene serbische Publikum anfeuerte und Wetten auf sie abschloß. Den Siegern in den Kämpfen auf Leben und Tod wurde die Freiheit versprochen, doch nicht einer hat sie je erlangt. Denn letztendlich endeten auch die siegreichen Gladiatoren unter serbischen Messern.

Mittlerweile haben die Gladiatorenspiele aufgehört. Schließlich gibt es ja auch keine Muslime mehr. Entweder sind sie tot oder haben ihr Leben durch Flucht ins nahe Tuzla, nach Srebrenica oder Žepa gerettet. Geblieben sind – neben den „Gelben Ameisen“ – paramilitärische Banden wie „Čeletovs Freiwillige“, die „Pejna Gardisten“, die „Gelben Wespen“, „Aždajins Leute“. Angeblich kämpft die „Regierung“ in Pale gegen die Privatmilizen, hat gar Anklage gegen Dušan Vučković erhoben.

Den Zuschauern des Belgrader Fernsehsenders wurde gezeigt, wie die Mitglieder der „Gelben Ameisen“ mit gesenkten Köpfen im Gefängnis verschwanden. „Mein Gott, was für eine Lüge!“ stöhnt ein Mann mittleren Alters, der natürlich nicht wagt, seinen Namen zu nennen. Tatsächlich hätten die Kameras aus Belgrad zwar gefilmt, wie die „Ameisen“ ins Gefängnis gingen. Daß sie aber anschließend sofort wieder freikamen, fehlte bei den Aufnahmen.

Von den Kämpfen im nahen Kalesija oder Tuzla ist in Zvornik nichts zu spüren. Und doch bereiten sich die serbischen Kräfte offensichtlich auf eine Verteidigung der Stadt vor. Ständig meldet die lokale Radiostation, die Zugänge zur Stadt seien gut befestigt. Die Muslime könnten auf keinen Fall eindringen. Doch die Zvorniker können auch „die anderen“ hören. Denn auf dem „freien“, muslimischen Territorium zwischen Tuzla und Zvornik steht eine bosnische Radiostation, die sich mehrmals am Tag mit Nachrichten meldet.

Glaubt man dem „Feindsender“, so rücken die bosnischen Truppen seit Wochen an allen Frontlinien langsam in Richtung Zvornik vor. Schon sind einige wichtige strategische Punkte erobert. Das Ziel des bosnischen Vorstoßes ist es, den Korridor zu durchschneiden, der die ostbosnischen Serbengebiete mit der Region Banja Luka und der serbisch kontrollierten Krajina in Kroatien verbindet.

Generalmajor Milenko Živanović, der Kommandant des „Drina- Korpus“ der bosnisch-serbischen Truppen, macht sich keine Sorgen. „Eine Rückkehr der Muslime kommt auf keinen Fall in Frage“, erklärt er den Hörern von Radio Zvornik. Zumal die bosnischen Truppen bisher noch überall zurückgeschlagen worden seien. Und auch der Genfer Teilungsplan sieht nicht vor, daß das Gebiet um Zvornik der muslimischen Seite zufällt.

Dennoch kommt es immer wieder zu Sabotageakten. Seit Monaten schon sind bosnische Spezialeinheiten unter Führung des Kommandanten Naser Crlić vor allem am nördlichen Ufer der Drina aktiv. Sogar die serbischen Offiziere in Zvornik geben zu, daß Crlić ein sehr fähiger Offizier ist. Vor dem Krieg hatte er im jugoslawischen Polizeiministerium gearbeitet und galt dort als einer der besten und erfahrensten Mitarbeiter. Das Gerücht, die Aktionen von Crlićs Soldaten würden einen bosnischen Angriff vorbereiten, hält sich hartnäckig.

Auf den ersten Blick ist Zvornik im Sommer 1994 eine ganz normale Stadt. Und doch fällt auf, daß die Straßen auch tagsüber voller Menschen sind. Und daß die Piazza sich in ein Paradies für Schwarzhändler verwandelt hat. Angeblich echte Jeans kosten zwischen dreißig und hundert Mark, makedonische Zigaretten der Marken „Lord“ oder „Partner“ werden zwischen einer und einer Mark fünfzig angeboten.

Auf der anderen Seite des Platzes werden Nahrungsmittel verkauft, die zum größten Teil aus dem benachbarten Serbien kommen. Für knapp eine Mark kann man ein Kilogramm Kartoffeln kaufen, Zwiebeln, Kohl, Spinat für eine Mark fünfzig, Kirschen und Erdbeeren für zwei Mark.

Die Jugendlichen von Zvornik treffen sich im Café „Skorpion“. Von dem Leben, das in der Stadt vor dem Krieg geherrscht hatte, wissen sie nichts. Mehr als zwanzigtausend Menschen wurden in den letzten zwei Jahren in verlassene Häuser einquartiert. Für die Älteren unter ihnen ist der wichtigste Ausflugsort das Hotel „Vidikovac“. Die Siedlung um den Bau herum heißt jetzt „Sveti“ (Heiliger) Stefan. Ihren alten Namen kennt im „Vidikovac“ kein Mensch.

Auch in der Stadt selbst wurde jeder Name, der an die vertriebenen Muslime erinnern könnte, entfernt. Als ob es nie Muslime in Zvornik gegeben hätte, als ob sie dort nicht fast 75 Prozent der Bevölkerung gestellt hätten. „Bevölkerungswanderung“ nennen das die Serben in Zvornik. Oder „Umsiedlung“.

Von Völkermord spricht niemand, wohl auch, weil die heutigen Bewohner der Stadt aus Gebieten kommen, die von Muslimen gehalten werden. Dort haben sie ihre Häuser zurückgelassen, ihr Hab und Gut und alles, was in ihren Wohnungen war. Heute dringen sie in die Häuser ein, in denen einst Muslime lebten. Zu Anfang gab es dabei noch so etwas wie einen Plan, eine Ordnung. Doch um die vorläufige Erlaubnis zur Ansiedlung kümmert sich schon längst keiner mehr.

So kommt es nicht selten vor, daß sich Serben untereinander um die Häuser und den Besitz der vertriebenen Muslime prügeln. Längst hat sich die „Umsiedlung“ in eine allgemeine Plünderung verwandelt. Wer stärker ist, nimmt sich das meiste. Alle sind hier Kriegsprofiteure. Was würden diese Leute wohl tun, wenn der Krieg aufhörte? Zur Arbeit in den Fabriken wird man die „Siedler“ nicht mehr zwingen können. „Die leben doch gut und erlangen mit Leichtigkeit ein großes Vermögen“, sagt der Kellner im Hotel „Vidikovac“.

Auch in der heißen Phase des Krieges um Ostbosnien kam es in Zvornik zu keinen größeren Zerstörungen. Das wenige, was damals vernichtet wurde, ist längst wieder aufgebaut worden. In der Sporthalle finden Feste und Konzerte statt. Besonders Kriegslieder, die von der serbischen Geschichte handeln, sind in Mode. Auch die Betriebe kommen langsam wieder in Gang. Im Industriegebiet Karakej wurde mit der Produktion von Kühlschränken begonnen, nebenan werden Sperrholzplatten und Ziegel hergestellt. Der Steinbruch arbeitet wieder, „Gigant Komplex Glinica“ produziert zwar nur mit ungefähr 40 Prozent seiner Kapazität, aber immerhin wird in Zvornik wieder Zeolith hergestellt.

Die Durchschnittslöhne in der Stadt betragen um die 45 Mark. Auf die Frage, ob man davon leben kann, winken die Neu-Zvorniker nur ab: Alle widmen sich zusätzlichen Geschäften. Ob diese nun Schwarzhandel oder Raub heißen, ist völlig egal. Schließlich geben die „Siedler“ selbst zu, daß es für sie hier keine Zukunft gibt. Außer den Mächtigen und einigen besonders großen Kriegsprofiteuren suchen alle eine Möglichkeit wegzugehen. Weit weg, irgendwohin ins Ausland oder wenigstens nach Serbien.

Denn mit einem echten Frieden rechnet niemand, auch dann nicht, wenn es in Genf oder anderswo zur Unterschrift unter einem Friedensvertrag kommen sollte. Die Angst vor neuen Kämpfen ist allgegenwärtig, und Krieg wollen nur wenige noch einmal an der eigenen Haut zu spüren bekommen.

Ein Mädchen aus der zentralbosnischen Gemeinde Vlasenica bietet 16.000 Mark Erspartes für denjenigen, der ihr den Umzug an irgendeinen Ort der Weltkugel ermöglicht. Sie ist nur ein Beispiel von vielen. „Auf den Ruinen des Unglücks und der Tragödien der einen kann das Glück der anderen nicht wachsen“, heißt es in einem alten serbischen Sprichwort. Genau das gilt heute für Zvornik.

Übersetzung aus dem Serbokroatischen von Eggert Hardten