■ Dokumentation der Rede Helmut Kohls zum 20.Juli
: „Es waren nicht viele, aber es waren die Besten“

Wir ehren heute jene Männer und Frauen, die vor fünfzig Jahren den Versuch unternahmen, in unserem Vaterland die Herrschaft des Verbrechens zu beseitigen. Sie waren bereit, für Menschenwürde und Freiheit, für Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit ihr Leben zu opfern. Sie wollten die „Majestät des Rechtes“ wiederherstellen [...]

Schon bald nach dem gescheiterten Attentat wurde der 20. Juli zum Inbegriff für den deutschen Widerstand gegen die NS-Barbarei. Am deutlichsten erkannte der Diktator selbst die Bedeutung dieses Umsturzversuchs. Er setzte alles daran, die Tat Stauffenbergs und seiner Mitverschwörer, wie er sagte, als „Komplott einer ganz kleinen Clique ehrgeiziger und gewissenloser Offiziere“ zu diffamieren. Und wir wissen es und wir sollten es aussprechen, daß noch lange das Gift dieser Propagandalüge nachwirkte. Ganz im Sinne ihres Urhebers wurde sie dazu benutzt, dem militärischen Widerstand die Lauterkeit der Motive und Absichten abzusprechen. Die Wahrheit ist jedoch, daß der 20. Juli 1944 Höhepunkt und Endpunkt einer Entwicklung war, die seit Hitlers Machtergreifung Anfang 33 Männer und Frauen aus den unterschiedlichsten politischen Richtungen im Kampf gegen die Herrschaft des Verbrechens zusammengeführt hatte. Beteiligt waren Menschen aus allen Schichten, aus der Mitte unseres Volkes: Bürgerliche und Adlige; Gewerkschafter und Offiziere; Arbeiter und Diplomaten; Gelehrte und Geistliche. Es waren nicht viele, aber es waren die Besten.

Menschliche Größe und ganz unvergleichliche Würde gewinnt Widerstand vor allem dort, wo er als freie Entscheidung ein Aufstand des Gewissens ist. Dies gilt ganz gewiß für die Männer und Frauen des 20. Juli. Sie handelten nicht auf Weisung. Es gab auch keine Massenbewegung, von der sie sich hätten mitreißen lassen können. Niemand nahm ihnen den Entschluß zum existentiellen Wagnis ab. Sie berieten sich mit den Freunden und Gefährten, aber die letzte, die allerletzte Entscheidung mußte jeder von ihnen für sich selbst treffen. Im Allertiefsten ging es ihnen um einen Akt sittlicher Selbstbehauptung. Und gerade dadurch konnte der Umsturzversuch heute vor fünfzig Jahren eine so eminente und dauerhafte politische Bedeutung gewinnen.

Dieses Datum wird, und so hoffe ich, die Deutschen für immer daran erinnern, daß die Würde jedes einzelnen Menschen aller staatlichen Gewalt vorausgeht, ihr übergeordnet ist. Sie ist ein absoluter Wert, der keiner Begründung bedarf [...]

Was die Männer und Frauen des Widerstands miteinander verband, war die gemeinsame Gegnerschaft zum nationalsozialistischen Regime. Der Widerstand bestimmte sich zunächst durch den Gegner. Dafür verdient er unser aller Achtung. Vorbildcharakter erhält er aber erst durch die politisch-moralische Zielsetzung. Um die bleibende Bedeutung des deutschen Widerstands für die Gegenwart und für die Zukunft ganz begreifen zu können, dürfen wir uns daher nicht auf die Frage beschränken, wogegen er sich gerichtet hat. Wir müssen uns auch fragen, wofür die an ihm Beteiligten eingetreten sind. In diesem Wofür liegt das Vermächtnis, auf das wir uns im gemeinsamen Deutschland, im vereinten Deutschland beziehen. Die Wiederherstellung von Recht und Gerechtigkeit und damit die Rückkehr zu ethischen Werten und Maßstäben – dies war das oberste Ziel der allermeisten, die sich gegen das nationalsozialistische Regime erhoben. Die Beseitigung von Unrecht und Willkürherrschaft war der notwendige Schritt auf dem Weg dorthin [...]

Wer heute konsequent und mit großer Überzeugung unsere freiheitliche Demokratie verteidigt, wird eben morgen nicht in die Lage kommen, Widerstand leisten zu müssen. Wo die Bürger teilnahmslos abseits stehen und sich nicht mehr für die demokratische Ordnung einsetzen, besteht die Gefahr, daß die Feinde der Freiheit, daß Rechts- und Linksextremisten diese Ordnung unterwandern und dann zerstören können. Das Verhängnis ist kaum noch aufzuhalten, wenn dann auch noch gesellschaftliche und politische Eliten den Extremisten die Hand reichen – womöglich in der Illusion wie schon einmal, sie würden mit ihnen schon fertig werden. In Wahrheit gibt es keinen Kompromiß zwischen Freiheit und Unfreiheit. Und jeder von uns bleibt aufgefordert, ideologisch begründeten Wahrheits- und Machtansprüchen zu widerstehen und jeglicher Form von Fanatismus entgegenzutreten. Intoleranz und Mißachtung des anderen dürfen in Deutschland nie wieder eine Chance haben. Die entscheidende moralische Trennlinie [...] verläuft nicht zwischen links und rechts, sondern zwischen Anstand und Ruchlosigkeit [...]