Stacheldraht wird teurer

■ Rußland und Estland streiten über den Verlauf der gemeinsamen Grenze, Rußland und die GUS-Staaten über die Finanzierung ihrer Friedenstruppen

Moskau (taz) – Zu Beginn des GUS-Gipfels am Montag ging es noch freundlich zu. Der Chef des ukrainischen Generalstabes, Anatoli Lopata, küßte den russischen Vizeverteidigungsminister Boris Gromow. Die russisch-ukrainischen Beziehungen erwärmten sich durch diese schöne Geste vor aller Augen, was jedoch auch alle erwartet hatten – nachdem in der Ukraine mit Leonid Kutschma ein russophiler Präsident das Ruder übernommen hat.

Der Sprecher der ukrainischen Delegation bedauerte sodann auch als einziger, daß beschämende Armut das eigene Land daran hindere, mit den Russen eine für beide Seiten gleich vorteilhafte militärische Partnerschaft einzugehen. Die übrigen Partner zeigten sich da unverfrorener. Mag Rußland zwischen Georgiern und Abchasiern ruhig Frieden stiften, aber bitte auf eigene Kosten – so ihre Position. Und als Rußlands Verteidigungsminister Gratschow begriff, daß die anderen GUS-Staaten für das ferne transkaukasische Peace- Corps keinen Mann und keine Kopeke abzuzweigen gedenken, schlug am Dienstag die Schwüle im Konferenzsaal wie in ganz Moskau in Gewitter um. Wütend polterte Gratschow, er sei „verblüfft“, und beschuldigte die anderen Minister, daß sie „die Bettdecke auf ihre Seite hinüber ziehen, ohne Rücksicht darauf, daß Rußland ohnehin aus dem letzten Loch pfeift“.

Das eigentliche Ziel der Zusammenkunft, eine gemeinsame Sicherheitskonzeption der GUS- Staaten, verfolgten die Außenminister gemeinsam mit den Militärs am Mittwoch weiter. Auch in dieser Runde zeigte sich, daß die Integration der Gemeinschaft eher schleppend verläuft. Was den ursprünglich auf der Tagesordnung stehenden Punkt „Situation der nationalen Minderheiten in den Mitgliedsstaaten“ betrifft, so hielten eine ganze Reihe von Ministern dessen Erörterung plötzlich nicht mehr für zweckmäßig.

Statt dessen gab der geküßte General seine Ansichten zu den russisch-estnischen Beziehungen preis: „Die Dinge liegen dort sehr viel komplizierter, als wir gedacht hatten.“ Daß ein Abkommen über den Truppenabzug aus Estland nur noch eine Frage der Zeit sei, der ursprünglich vorgesehene Termin, der 31. August, jedoch nicht eingehalten werden könne, hatten Vertreter beider Staaten bereits in der letzten Woche durchblicken lassen. Nicht ausreichend erscheinen den Russen vor allem die Garantien der estnischen Regierung in bezug auf finanzielle und existentielle Sicherheit der russischen Pensionäre im Lande. Boris Jelzin: „Solange Estland nicht seine Gesetzgebeung mit den Menschenrechten in Einklang bringt, haben wir nicht vor, unsere Truppen abzuziehen.“

In weitere Ferne ist ein Ende der Abzugs-Verhandlungen, die am Mittwoch ergebnislos abgebrochen wurden, aber auch wegen eines Grenzstreits gerückt. Vom Zaun brach ihn Rußlands Präsident, als er im Juni einen Ukas über die einseitige Markierung der gemeinsamen Staatsgrenze erließ. Darauf reagierte wenig später das Parlament in Tallinn mit der Verabschiedung eines Grenzgesetzes, das sich auf den Tartuer Vertrag von 1920 stützt. Danach hätte Estland Anspruch auf 2.000 heute zu Rußland gehörenden Quadratkilometer Land. Beide Staaten horten jetzt erst einmal fieberhaft Stacheldraht. Barbara Kerneck